Cannes-Veranstalter überprüft Jung von Matts "Stolperstein"-Projekt
Das umstrittene "Stolpersteine"-Projekt könnte Jung von Matt nachträglich zwei Löwen kosten. In der Branche stößt das Vorgehen der Hamburger ohnehin auf heftige Kritik.
Es gibt Themen, mit denen man als Agentur überlicherweise gut punkten kann bei den Jury-Gremien internationaler Kreativ-Shows. Holocaust-Aufklärungsarbeit gehört dazu. Gerade wenn sie von einer deutschen Vorzeigeagentur wie Jung von Matt stammt. Die Kreativschmiede hat in Cannes einen Casefilm vorgelegt, der die digitale Verlängerung des Projekts „Stolpersteine" von Gunter Demnig dokumentieren soll. Der Künstler verlegt seit mehr als zehn Jahren Gedenksteine vor Häusern, die Menschen bewohnten ehe sie im Dritten Reich dem Holocaust zum Opfer fielen. Viel beachtet, wenig beworben. Mit einer neu eingerichteten Webseite (stolpersteine-online.com) – Demnig selbst unterhält seit Jahren das Portal stolpersteine.com – wollte Jung von Matt/Fleet laut eigenem Bekunden „das beeindruckendste Holocaust-Denkmal" aller Zeiten „zum größten Online-Holocaust-Denkmal der Welt" ausbauen und junge Menschen in Kontakt mit der Thematik bringen. Der Casefilm selbst: anrührend erzählt, mit gefühlvoller Musik hinterlegt. Die Ausbeute bei Kreativ-Awards: gut. Zuletzt Gold in Cannes in der Rubrik Media, Bronze in der Rubrik Integrated.
Das Problem ist nur: Die Agentur hat falsche Tatsachen vorgegaukelt. Technische Features, die Jung von Matt zum Zeitpunkt der Einreichung im Casefilm anpries, hat es da noch gar nicht gegeben. Und auch wenn die Agentur nicht explizit lügt, so lasse der Film doch zumindest sehr viel „Raum für Fehlinterpretation", wie es ein Cannes-Juror treffend formuliert. Wer das Projekt nicht kennt, könne angesichts des Films leicht zur irrigen Annahme gelangen, das gesamte „Stolpersteine"-Projekt stamme von Jung von Matt. Nicht alle Vorwürfe lassen sich heute noch nachvollziehen, denn die Agentur hat mittlerweile nachgearbeitet. Offenbar musste der Casefilm noch vor Cannes fertig werden. Jung von Matt schweigt sich zur Angelegenheit weiter aus; die kreative Verantwortung tragen als ECDs Dörte Spengler-Ahrens und Jan Rexhausen. In der Branche allerdings sorgt der Fall für heftige Diskussionen. Denn er wirft nicht ganz zu unrecht die Frage auf, wie viel Verschönerungstaktik ein Award-Projekt verträgt.
„Eine Welt im Entwurf" dürfe man nicht zeigen, sagt etwa Guido Heffels, Chef-Kreativer der Agentur Heimat. Das sei „eine Frage der Ehre". Der Fall Stolpersteine, sagt Heffels, „zeigt nur, dass der Hunger nach Gold mittlerweile einen Punkt erreicht habe, der für die Branche nicht mehr gesund ist". „Wir bekommen ein echtes Nachwuchsproblem", sagt Heffels, wenn vorgelebt werde, dass man mit so etwas durchkommt.
Ralf Heuel, Chef-Kreativer von Grabarz & Partner in Hamburg, geht sogar so weit zu sagen, das Projekt von Jung von Matt sei das „armseligste, was ich je gesehen habe" und beschädige den Ruf einer Branche, die ohnehin nicht gerade mit Vorschlusslorbeeren überhäuft wird. Heuel zieht Vergleiche. Er selbst hat für VW eine integrierte Kampagne für Up erarbeitet, bei dem der Kleinwagen eigentlich von Tausenden Luftballonen in die Luft gehoben werden sollte. Das klappte nicht, weil das Wetter schlecht war. Im Casefilm zeigte die Agentur darum auch faktengetreu das Scheitern der Aktion. Dass man Dinge vorgaukle, die so nicht sind, sei eine neue Eskalationsstufe, die es bislang in der Form nicht gegeben habe, sagt Heuel. Ähnliche Kritik kommt von vielen anderen; auch in sozialen Netzwerken.
Verständnis für Jung von Matt hat angesichts des Stolperstein-Fauxpas kaum einer in der Branche. Matthias Storath, Kreativ-Geschäftsführer von Ogilvy & Mather in Frankfurt gehört zu den wenigen, die sich hinter Jung von Matt stellen. "Case-Filme", sagt er, seien nun mal die Präsentationsform „unserer Zeit“. Dass dabei oft etwas nachgeholfen wird und der Case natürlich den Idealfall nachzeichne, hält er für legitim. Auch wenn die Realität oft anders aussieht. Schließlich sei dies den Juroren bekannt. "Kritisch" wird es Storath zufolge nur dann, wenn die Agenturleistung nicht deutlich werde. „Doch bei dem Jung-von-Matt Case Stolpersteine war das eindeutig gegeben."
Ob der Fall indes Konsequenzen für das Abschneiden von Jung von Matt in Cannes hat, bleibt abzuwarten. Der Veranstalter prüft die Angelegenheit jetzt. Fred Koblinger, Chef der Agentur PKP BBDO in Wien und einziges deutschsprachiges Mitglied der Integrated-Jury in Cannes, erzählt, man habe sich an der Croisette durchaus intensiv mit dem Stolpersteine-Projekt von Jung von Matt befasst. Natürlich müsse man „als Juror aufpassen, ob die Einreichung besser ist als die Aktion". Die Juroren seien emotional berührt gewesen, die Kampagne gut.
Nach wie vor stellt sich allerdings die Frage, worin die kreative Leistung von Jung von Matt besteht. Koblinger zweifelt nicht an dem Urteil seiner Jury und nimmt’s pragmatisch: „Ich würde als Jung von Matt hergehen und sagen, ich nehme das Projekt zurück. Wenn die Neidkultur so groß ist, wäre mir das zu blöd."
Letzlich bleibt es wahrscheinlich aber eher eine Frage der Kreativ-Ehre. Und den Maßstab dafür legt jede Agentur noch immer selbst fest. (ds/ph)
Mehr über das "Stolperstein"-Projekt, wie die Clio-Jury auf die Fake-Vorwürfe reagiert, die "Stones telling stories" ebenfalls prämierte und wie auch andere Agenturen das Vorgehen von Jung von Matt scharf kritisieren: In der aktuellen W&V (Heft 27/2012; S. 30).