Benjamin Minack:
Content Marketing im wahren Leben: Die Furcht vor der Fachabteilung
Zu umständlich, zu unsexy, zu unwillig: Marketer und PR-Leute gehen den Fachabteilungen in ihrem Unternehmen gerne aus dem Weg und spielen lieber ihre Standard-Kommunikationsprogramm ab, als sich mit den Nerds in der Produktion auseinanderzusetzen. Dabei übersehen sie ein großes Potenzial für Content Marketing.
Zu umständlich, zu unsexy, zu unwillig: Marketer und PR-Leute gehen den Fachabteilungen in ihrem Unternehmen gerne aus dem Weg und spielen lieber ihre Standard-Kommunikationsprogramm ab, als sich mit den Nerds in der Produktion auseinanderzusetzen. Dabei übersehen sie ein großes Potenzial für Content Marketing, glaubt W&V-Gastautor Benjamin Minack*.
Marketingmann Müller hat ordentlich geschnittene Fingernägel. So kann er heute richtig in die Tasten hauen: Der erste Eintrag auf dem neuen Blog der Unternehmenskommunikation muss noch vor Weihnachten online gehen! Marketingmann Müller wird auch diese Aufgabe bewältigen: Die Digitalstrategie der Firma hat er maßgeblich mitgestaltet. Er denkt online first – und dass Content King ist, muss ihm wirklich keiner mehr erzählen.
Das Thema, das Müllers Tastatur zum Rattern bringt, ist aus Sicht des Marketings stark: Es geht um, sagen wir mal, Zweikomponentenkaltharzplastik – ein unentbehrliches Produkt, wenn man ein Eisbärgehege baut. Der Einkauf verhandelt aktuell mit dem Zoo in Singapur, der noch einige Fragen in Bezug auf Aushärtzeiten bei hoher Luftfeuchtigkeit hat. Die USPs kennt Müller im Schlaf (tierfreundlich, luftfeuchtigkeitsunempfindlich, wirtschaftlich).
Wenn er seinen Kollegen auf einem Kongress erzählt, dass er zu allen USPs was Hübsches gebloggt hat und man zukünftig ohnehin Content generieren will, der sich vermarkten lässt und damit der Vermarktung dient, ziehen die ihre Sonnenbrillen etwas tiefer und sagen: "Yo, läuft bei dir – eine Schande, dass die Medien nicht häufiger berichten über dein Zweikomponentendingsdaduweißtschon".
Es gibt einen Mann, der hat sie, die Geschichten, die wir alle gerne hören. Er arbeitet in einer Fachabteilung und wird erst ganz zum Schluss gefragt. Vielleicht schaut er auch den ganzen Tag auf einen Bildschirm. Aber sein Bildschirm ist kein iPad. Was ihm entgegenleuchtet, ist nicht die Timeline von Twitter oder der neue Unternehmensblog, sondern eine Software, die anzeigt, wie viel Hektoliter Komponentenrohstoff noch in dem Silo für Produktionsstraße IV ist und welche Temperatur in Echtzeit darin herrscht. Der Mann weiß, was Eisbären wünschen. Wenn er im Neuen Jahr Müllers Text zur Freigabe bekommt, wird er sagen: Die haben doch keine Ahnung. Warum fragt mich keiner?
Die Furcht vor der Fachabteilung ist unter Kommunikationsleuten weit verbreitet – und beruht durchaus auf Gegenseitigkeit. Ihr wird oft die Schuld gegeben, wenn Abstimmungsprozesse langwierig und unbefriedigend sind. Manchmal werden Agenturen beauftragt, die Kommunikation mit den betreffenden Gewerken zu moderieren. Das war schon immer so und ist ja auch gut so: Der Ingenieur tickt eben anders als der Pressemensch.
Allerdings verhilft die digitale Transformation Nischenthemen zu unverhoffter Konjunktur. Für eine zentral aufgehängte Unternehmenskommunikation ist dies eine nicht zu unterschätzende Herausforderung. Denn die Themen liegen weit unterhalb der Wahrnehmungs- und Kenntnisschwelle. Das gewählte Beispiel mit Marketingmann Müller und seinem Fachbeitrag ist natürlich falsch: Herr Müller schreibt Beiträge, die Formulierungen enthalten wie "schließt strategische Allianz im Asia-Pacific-Raum", "legt Geschäftsbericht vor" und "übernimmt Schirmherrschaft für Nachhaltigkeitsinitiative". Die Auswertung von Fachinformationen für sehr spezielle Publikationsbedürfnisse (genau: "Content Marketing!") steht nicht in seiner Job Description und hat dort auch nichts verloren.
Zu wessen Aufgaben aber solcherlei zählt, ist weitgehend unbekannt. Wer spezifische Inhalte braucht (und die Bedürfnisse werden tendenziell steigen) wird neue Wege innerhalb seiner Organisation brauchen – und die sind steinig. Sonst entsteht einfach nur "Content" und nichts, was den Aufwand lohnt. Denn Content ist allenfalls King, guter Content aber ist King Kong.
* Benjamin Minack ist Mitgründer und CEO der Berliner Digitalagentur Ressourcenmangel, die zur Hirschen Group gehört. Vorher verantwortete er Marketing und Business Development bei Zeit Online in Hamburg.