Sie sagen, Iversity sei die führende MOOC-Plattform in Europa. Wie definieren Sie diesen Anspruch? Geht es um die Zahl der Teilnehmer oder die der Kurse?

Sowohl als auch. Meines Wissens gibt es in Europa keine Plattform, die ein so großes Curriculum hat, aber definitiv gibt es auch keine andere, die eine Viertelmillion Studierende verzeichnet.

Haben Sie erste demografische Daten zu den Teilnehmern?

Ja, die haben wir. Zunächst einmal ist die Mehrheit der Studierenden schon im Berufsleben, das heißt sie sind älter als 30 Jahre. Die meisten haben auch schon ein abgeschlossenes Studium. Viele unserer Studierenden nutzen die MOOCs als Weiterbildung. Was die geografische Herkunft betrifft, kommt die größte Gruppe – was nicht weiter überraschend ist – aus Westeuropa. Aber wir registrieren auch einen erheblichen Anteil von Studierenden aus Schwellenländern wie Indien, Russland und Südamerika. Hier besteht eine hohe Nachfrage nach Weiterbildung.   

Sie haben sich vor dem Start von Iversity intensiv mit den MOOC-Projekten in den USA auseinandergesetzt. Welche Erfahrungen oder Eindrücke haben Sie dort gewonnen?

Als ich mir die ersten MOOCs in den USA anschaute, um sie aus User-Sicht zu verstehen, wurde mir schnell klar, dass dieses neue Lehrformat etwas ganz anderes ist als eine abgefilmte Präsenz-Vorlesung an der Universität. Das neuartige didaktische Konzept sprang sofort ins Auge. Da war mir klar, dass es sich bei den MOOCs um eine Übersetzung von Präsenz-Lehre in ein neues Internet-Format handelt, das einen neuen Wert schafft. 

In den USA wurde in letzter Zeit moniert, dass nur eine ­– wie es hieß – schockierend geringe Zahl der MOOC-Teilnehmer tatsächlich ihren Kurs mit Erfolg abschließt. Sie liegt teilweise bei unter zehn Prozent. Mit welcher Quote rechnen Sie?

Das müssen wir mal abwarten, aber wir rechnen mit ähnlichen Quoten. Ich möchte Ihnen da allerdings widersprechen. Die MOOCs sind in den USA nicht generell in die Kritik geraten. Es gab Berichte über die Plattform Udacity und deren Gründer Sebastian Thrun. Da ist aber zu sagen, dass Udacity aus eigenen unternehmerischen Interessen eine neue Positionierung der Plattform vorgenommen hat. Vor 15 Monaten war Sebastian Thrun noch der größte Verfechter der MOOCs. Die universitäre Online-Lehre ist in der Bildungswelt als enormes Phänomen angekommen. Wenn ein solches Phänomen eine derartige Größenordnung erreicht und so viel Hoffnung mit sich bringt, ist es verständlich, dass dann auch immer Kritiker auf den Plan treten. Kritik ist gut und hilfreich, aber sie trägt auch dazu bei, dass dieser Trend und das Revolutionäre, das darin liegt, eher noch gestärkt werden. 

Ist es vielleicht ein Fehler, die Kurse kostenlos anzubieten? Würde eine auch nur geringe Teilnahmegebühr nicht die Motivation der Teilnehmer erhöhen?

Das kann gut sein. Wir befinden uns noch in einer sehr frühen Phase. Ich will nicht ausschließen, dass es bald Online-Kurse geben wird, die nicht mehr im eigentlichen Sinne MOOCs sind, sondern eine kleine Gebühr kosten. Auf Udacity gibt es das auch schon. In Deutschland wird so etwas immer schnell mit dem bösen Wort "Studiengebühren" belegt. In der Definition des Begriffs MOOC wird aber vor allem Wert auf das erste "O" gelegt, das für "open" steht. Deshalb glaube ich, dass die reine Teilnahme auf Sicht eher kostenlos bleiben wird. Es läuft wohl auf eine Art Freemium-Modell hinaus, nämlich darauf, dass die Teilnahme kostenlos ist, dass man für den Erwerb des Abschluss-Zertifikats aber eine Gebühr zahlen muss.

Welche didaktischen Mittel wenden Sie an, um Teilnahme-Abbrüche möglichst gering zu halten?

Das ist natürlich vor allem die Aufgabe unserer Lehrenden. Wir sind nicht die Anbieter der Kurse, sondern nur die Plattform. Das gesamte didaktische Konzept liegt bei den Professoren, die die Kurse geben. Einige Kurse integrieren beispielsweise Google Hangouts, es gibt Facebook-Gruppen, in denen Diskussionen stattfinden, oder es werden regelmäßig E-Mail-Updates zur vergangenen Vorlesung an die Teilnehmer geschickt, in denen auch Hausaufgaben aufgegeben werden. Es gibt also einen regen Austausch. 

Sie sprachen einmal davon, dass Sie sich als Partner der Universitäten sehen. Was heißt das konkret?

Wir haben für die ersten 25 Kurse ebenso viele Partnerschaften mit Universitäten abgeschlossen. Wir sind die Plattform, auf der die Institutionen beziehungsweise die Lehrenden der Institutionen ihre Kurse anbieten. Wir haben inzwischen drei Kurse, in denen die Studierenden eine offizielle Akkreditierung erhalten können, sogenannte ECTS-Punkte – also Leistungspunkte nach dem European Credit Transfer and Accreditation System. Das heißt, dass Präsenzexamen organisiert werden, an denen die MOOC-Studenten teilnehmen können, um diese ECTS-Punkte zu erwerben und sich auf diesem Weg den Kurs als Schein innerhalb ihres Studiums anrechnen lassen können. Es gibt also Rahmenverträge, die die Zusammenarbeit regeln. 

Welche Relevanz hat denn ein Abschluss-Zertifikat?

Die Wertigkeit variiert natürlich bei den unterschiedlichen Teilnehmer-Segmenten. Sie ist abhängig von der jeweiligen Lebensphase des Teilnehmers. Für eine berufstätige Frau in Indien ist es möglicherweise nicht wichtig, ob ein Kurs ECTS-Punkte hat. Dafür ist es für sie wichtig, dass der Kurs ihr etwas in ihrem Beruf bringt. Anders ist es wieder bei einem Studenten in Deutschland, der beispielsweise einen BWL-Kurs über unsere Plattform belegt anstelle eines Kurses an seiner eigenen Universität. Der möchte natürlich die Punkte haben, um sie sich anrechnen lassen zu können. Die Zertifikate sind also für viele Studierende wichtig, aber nicht für alle. Die Abbruchraten, die teilweise kritisiert werden, sehen wir deshalb nicht als so problematisch an.

Weil viele Teilnehmer gar kein Zertifikat wollen?

Genau. Die MOOCs und das Zurverfügungstellen von Bildungsangeboten online stellen so manches auf den Kopf. Was die Bedeutung des Abschlusszertifikats betrifft, geht die Interpretationshoheit an den eigentlichen User über. Es kann für den einzelnen Teilnehmer ein völlig valides Lernziel gewesen sein, auf ein Zertifikat zu verzichten. Man muss also vorsichtig sein, wenn man sagt, dass nur eine Minderheit von MOOC-Teilnehmern bis zum Schluss durchhält, um ein Zertifikat zu erlangen.  

Die US-Plattform Udacity hat in letzter Zeit einen Strategiewechsel vorgenommen: Weg von MOOCs und hin zu Kursen, die vor allem auf den Beruf im Technologie-Bereich vorbereiten sollen ­– und das in enger Zusammenarbeit mit Silicon-Valley-Firmen. Außerdem ist Udacity dazu übergegangen, Gebühren für die Kurse zu verlangen. Gleichzeitig werden Kurse von den Technologie-Unternehmen gesponsert, wie zum Beispiel von AT&T. Ist das nicht ein Geschäftsmodell, das man durchaus nachvollziehen kann?

Ich möchte die Strategie anderer Marktteilnehmer nicht allzu stark kommentieren. Ich finde diese Strategie durchaus interessant und hoffe, dass sie für Udacity die richtige ist. Wenn man sich die Entwicklungen der Zahlen im MOOC-Bereich anschaut, lagen Coursera und Udacity für eine gewisse Zeit Kopf an Kopf. Dann ist Coursera aber sehr stark weggezogen mit inzwischen über fünf Millionen Studierenden. Die neue Strategie von Udacity könnte auch eine Reaktion darauf sein. 

Wie sieht denn das Geschäftsmodell von Iversity aus?

Wir stellen im Augenblick das Thema Monetarisierung noch nicht in den Vordergrund. Denn wir glauben, dass wir erst mal, so wie das Coursera auch gemacht hat, eine noch größere Anzahl von Studierenden mit unseren Kursangeboten begeistern wollen. Und wir wollen beweisen, dass sehr viele Studierende zu unseren Kursangeboten zurückkommen. Die Monetarisierungs-Ideen, die wir 2014 realisieren wollen, gehen in eine ähnliche Richtung wie die, die in den USA zum Teil schon erfolgreich waren.

Was meinen Sie damit?

Coursera hat jetzt gemeldet, dass sie durch Erlöse aus den Abschluss-Zertifikaten die erste Million Dollar an Umsatz gemacht haben. Das ist die Richtung, in die auch wir denken. Udacity experimentiert eher mit Sponsoring und Rekrutierungs-Angeboten, bei denen Unternehmen Kurs-Absolventen ansprechen dürfen. Das ist etwas, wo auch wir Monetarisierungs-Möglichkeiten sehen. Solche Finanzierungsmodelle wollen wir im nächsten Jahr behutsam testen. Aber man muss auch sehen, dass sich nicht alles aus den USA auf Deutschland übertragen lässt. In den USA und in vielen anderen Ländern sind die Menschen Studiengebühren gewohnt. Das ist in Deutschland etwas anders.   

Wie sieht Ihre Planung für 2014 aus?

Wir sind erst seit knapp zwei Monaten live und haben es geschafft, aus dem Stand die führende MOOC-Plattform in Europa zu werden. Diese Position wollen wir ausbauen. Wir wollen im nächsten Jahr auf ein Kursangebot von über 100 MOOCs wachsen, das heißt, auf der Angebotsseite wollen wir das Angebot vervier- oder sogar verfünffachen. Und genau so wollen wir aus den 250.000 Studierenden, die wir jetzt haben, über eine Million machen. Das sind unsere Ziele – und wir sind zuversichtlich, dass wir die auch erreichen werden.


Autor: Franz Scheele

Schreibt als freier Autor für W&V Online. Unverbesserlich anglo- und amerikanophil interessieren ihn besonders die aktuellen und langfristigen Entwicklungen in den Medien- und Digitalmärkten Großbritanniens und der Vereinigten Staaten.