"Jeder neue Kanal erzeugt neue Daten", sagt Christian Bachem, Geschäftsführer von der Strategieberatung Companion. Die Folge: "Viele Unternehmen haben Schwierigkeiten, mit den Daten umzugehen, die permanent auf sie einströmen. Das führt bei vielen zu Konfusion und Überforderung". Durch den permanenten Datenfluss können Silos entstehen, die dann nicht mehr händelbar sind. "In Unternehmen muss das Verständnis wachsen, dass sie mit Silos nicht weiterkommen", so Bachem.

Thomas Philipp, Market Research Group Manager, Nestlé Deutschland, umreißt ein weiteres Problem. Der Konzern sammelt national und international unzählige Daten. "Wir stoßen an Infrastrukturgrenzen", so Philipp. Vor allem Breitbandgrenzen bremsen immer wieder aus. "Wir sind erst jetzt in der Lage, alle Daten zu halten und zu analysieren." Die Frage, die sich jedes Unternehmen in dieser Lage stellen muss, ist jedoch: Müssen wir alles sammeln? Grundsätzlich gilt: "Die Bereitschaft und der Wille, die Daten zu nutzen, ist wichtig", sagt André Pallinger, Bereichsleiter Retail und Industry Cooperations, von Datengroßsammler Payback.

More Data = Better Data?

Mehr Messungen bedeuten nicht zwangsläufig auch bessere Daten. Die Kunst liegt künftig mehr denn je darin, wertvolle Daten von Datenmüll zu unterscheiden und herauszufiltern. "Die Kunst ist zu wissen, was man nicht braucht", sagt Thomas Philipp von Nestlé. Nicht Big Data nutze dem Unternehmen, sondern Smart Data.

Klug genutzt und interpretiert können Daten dabei helfen, Prozesse effizienter zu gestalten, Produkte zu verbessern, Zielgruppen besser zu verstehen und neue Kunden zu erreichen. Wer nur sammelt, hat irgendwann ein Problem. Auch Erkenntnisse aus der Marktforschung (Small Data) müssten mit Big Data sinnvoll verknüpft werden.

Welche Qualifikation ist nötig?

Wenn es um Big Data und überhaupt Daten und Zahlen geht, machen viele Menschen "mental zu", beobachtet nicht nur André Pallinger von Payback. In vielen Unternehmen gäbe es eine Kluft zwischen der "neuen" und der "alten Welt", was oft auch ein Generationsthema sei. Bestandsteams können bei intensiver Schulung lernen, mit der Datenflut umzugehen. Aber, so Pallinger:  "Man braucht auch neue Talente". Vor allem Mathematiker und Statistiker werden in Zukunft stärker gefragt sein. Ebenso Mitarbeiter, die die Qualität von Daten einschätzen können, ergänzt Christian Bachem von Companion: "Facebook liefert oft eine unsäglich schlechte Datenqualität." Wenn es um die Vergleichbarkeit geht, bleibt der Mensch gefragt.  

Michael Stenberg, Global Vice President, Digital Marketing, Siemens AG, glaubt, dass sich in Zukunft die Rolle des Sales "fundamental ändert". Bisher würden 37 Prozent der Sales-Entscheidungen getroffen, bevor ein Unternehmen kontaktiert wird. Das verändert sich durch Social Media und die Erkenntnisse, die dort gesammelt werden. In diesen Kanälen haben nun auch Marketing-Kommunikatoren den direkten Kundenkontakt, konkrete Leads kommen inzwischen auch bei Siemens über Social Media rein. "Das führt zu großen organisatorischen Veränderungen in Unternehmen".

Data Storytelling

Enorm wichtig sind für Unternehmen Mitarbeiter, die Daten nicht nur interpretieren, sondern vor allem erklären können. Das sei vor allem in der Zusammenarbeit mit dem Topmanagement notwendig, das von diesen Daten Entscheidungen ableiten muss. Bei einer Datenflut droht da schnell eine "mentale Barriere", warnt Michael Stenberg, Siemens AG. Deshalb werden interne Analysten wichtiger, die etwas vom Data Storytelling verstehen. "Analysten müssen lernen, für ihre Daten eine Story zu kreieren, sonst steigen die Topmanager schnell aus", so Stenberg.

Das gilt aber auch in die andere Richtung, wie Thomas Philipp von Nestlé ergänzt: "An die Daten muss die richtige Frage gestellt werden. Und die muss so formuliert werden, dass ein Analyst sie versteht." Dabei könnten sich die "alte" und die "neue Welt" wunderbar ergänzen. Vor allem die Generation 40+ tue sich mit dem Thema leichter als ganz junge Mitarbeiter, so seine Erfahrung. 

Die Fähigkeit, Daten als Basis für Geschäftsentscheidungen richtig zu interpretieren, sei schon immer wichtig gewesen, so André Pallinger von Payback. "Tante Emma war die erste Big Data Managerin". Sie sammelte in "Real Time" mit "Gesichtsrecognition" und im direkten Kontakt Daten über ihre Kunden. Zusammen mit "30 Jahren Bauchgefühl" konnte sie "Daten mit Kontext aufladen" und ihr Angebot entsprechend immer wieder anpassen. "Man kann mit Daten bessere Entscheidungen treffen, aber man muss  auch das Geschäft kennen", so Pallinger.

Datenbremse: Weniger ist mehr

Nicht jede Information ist wertvoll, nicht alles muss bis ins Kleinste durchleuchtet werden. Nestlé betreibt für seine zahlreichen Produkte einen unterschiedlich hohen Aufwand. Der ist bei einer Kaffeemaschine von Nespresso höher als bei einer Tütensuppe. "Wenn ich in die Analyse einen Euro investiere, aber nur 1,90 Euro erlöse, dann habe ich ein Problem", so Philipp. Unternehmen sollten sich deshalb vorher fragen: Welche Daten kann ich nutzen? Welche Information hat welchen Wert? Sein Rat: "Lieber auf weniger Daten konzentrieren".

Damit die Datenanalyse im Tagesgeschäft händelbar bleibt, ist "weniger oft mehr", ist auch die Erfahrung von Michael Stenberg, Siemens. "Eine zu hohe Segmentierung kann auch kontraproduktiv sein". One-to-One-Marketing müsse nicht zwingend ein Interesse am einzelnen Menschen haben. Entscheidender sei die Bildung von sinnvollen Kunden-Clustern. Diese könnten dank kluger Datenanalysen "breit genug" sein und trotzdem "individuelle Gefühle" vermitteln. 

Wichtig sei auch die Definition von Kennzahlen für die unterschiedlichen Datenquellen, um die Vergleichbarkeit zu gewährleisten, ergänzt Christian Bachem von Companion. Erst dann ließen sich Silos aufbrechen und einzelne Abläufe besser automatisieren.

Automatisierung von Marketing: Die Mischung macht's

"Die automatisierte Durchführung von Marketing ist notwendig, um die Auslieferung an die richtige Person zur richtigen Zeit zu gewährleisten", sagt Siemens-Experte Stenberg. Die Kunst liege aber weiterhin darin, das Marketing richtig aufzusetzen und fundierte Inhalte für unterschiedliche Formate und Zielgruppen zu liefern. Diese komplexe Aufgabe bleibe die von Menschen. Denn da habe die Automatisierung ihre Grenzen.  

Bei Nestlé werden 98 Prozent der Kaufentscheidungen offline und nicht online getroffen. Das mache eine Automatisierung schwieriger, so Thomas Philipp. "Aber wir arbeiten daran" - auf Experimentierbasis.

Ein Budgetshift in Richtung Programmatic müsse gut überlegt sein, sagt Christian Bachem von Companion. Er warnt vor "Transparenzverlust" und "Data Fraud". Sein Rat: "Unternehmen müssen die Kontrolle behalten, wenn sie alles verändern wollen." Die Datenhoheit müsse in den Unternehmen bleiben, die Transparenz einfordern und nicht komplett auf einen Dienstleister vertrauen sollten. Auch über eigene technische Lösungen sollte nachgedacht werden. 

Um zielgerichteter in den verschiedenen Channels zu kommunizieren, kommt auch die Kreation um einen Blick in die Daten nicht herum.  "Der Datenkopf muss künftig mit dem Kreativkopf zusammenkommen", sagt Jochen Schlosser. Ein Beispiel: Das "Romeo Reboot"-Projekt von Axe in Brasilien, für das 100.000 verschiedene Varianten eines Videos zielgerichtet ausgespielt wurden.

Und die Zukunft? Programmatic Advertising breitet sich weiter aus, darüber herrscht Einigkeit. In den USA sind Programmatic TV, Programmatic Out-of-Home, In-Shop-Analytics und voll digitalisierte Anwendungen schon deutlich weiter. Künftig wird es mehr Services und Dienstleistungen im Austausch mit Daten geben, sagt Jochen Schlosser. Mit dem Internet of Things und Connected Cars schreite die Konvergenz voran. "Da entsteht eine ganz neue Geschäftskreativität."

Ralph Pfister, W&V, moderierte den "Schlagabtausch: Data versus Kreation - wer kennt den Konsumenten besser?". Seine Gesprächspartner (von links): Michael Trautmann, Thjnk, Nils Hartje, Google, und Zoja Paskaljevic, Dentsu. © Foto:W&V/Martin Kroll

#Data #Kreation #Michael Trautmann

 W&V Data Marketing Day | 29.01.2016 | von Annette Mattgey

Michael Trautmann: "Kreative sind dankbar für gute Daten"

Gibt es eine Kontroverse zwischen Data und Kreation? Auf dem Podium des W&V Marketing Data Day (hier geht's zur Bildergalerie) zu diesem Thema ging es recht friedlich zu. Spannende Innenansichten, wie sich ihr Arbeitsalltag verändert, gaben Zoja Paskaljevic, CEO von Dentsu Aegis, Thjnk-Chef Michael Trautmann und Nils Hartje, Industry Leader Agency bei Google Deutschland. Moderiert wurde die Runde von Ralph Pfister, Koordinator Ressort Marketing, Verlag Werben & Verkaufen.

Gleich zu Anfang feuerte Mediaagentur-Mann Paskaljevic eine Breitseite gegen Werbungtreibende: "Kein Kunde hat genügend Daten, um Big Data zu können." Daher appellierte er, die Silo-Denke hinter sich zu lassen und aus Daten verschiedener Quellen Audience Center zu bilden: "Es geht nicht darum, wem die Daten gehören, sondern aus den Daten Intelligenz zu schaffen." Daher münzte er den Titel der Runde flugs um in "Daten powern Kreation".

Den Ball nahm Trautmann auf: "Gute Kreation ist dankbar für gute Daten, insbesondere Planner." Dabei müssten "Team Brain" und "Team Heart" zusammenarbeiten, zitierte er eine Erkenntnis von Internet-Gury Gary Vaynerchuck. Einen klaren Vorteil sieht er darin, auf welche Weise Insights aus Daten gewonnen werden: "Wir müssen nicht warten, bis Menschen bei Rheingold ihr Innerstes nach außen gekehrt haben". Tja, das geht mit einem Cookie wirklich schneller, auch wenn es die Marktforscher wenig freuen dürfte.

Das neue Gold liegt bei Facebook

Um aus der Vielzahl der Daten das Relevante herauszufiltern, sind Data Scientists gefragt. Ihre beste Quelle, um nach Erkenntnissen zu schürfen? "Was ich von Facebook bekomme, ist Datengold", sagt Paskaljevic. Allerdings geht es nicht nur um Raketenwissenschaft. "Ein Grundverständnis kann sich jeder aneignen", ist Trautmann überzeugt. Sein Tipp: Sich Google Trends anzuschauen. Dort erkenne man Muster, wenn man seine eigene Marke, die Wettbewerber und die typischen Worte rund ums Produkt eingibt. "Das ist wie Lego für Architekten, da brauche ich keinen Harvard Ph.D.", so Trautmann.

Gegen Unwissen und Verunsicherung kämpft auch Google-Manager Hartje. Er ist für die Kontakte zu deutschen Media-Agenturen verantwortlich. Google sieht er dabei als "Sparringspartner", der vermittelt, "wie die technologischen Veränderungen die Geschäftsmodelle von Media- und Kreativagenturen beeinflussen." Manche Ansätze - etwa Programmatic Advertising - sind "noch sehr baukastenmäßig", so Hartje. "Es ist wichtig, dass Kreative das verstehen".

Aus Insights tolle Kampagnen

Dass mit heutigen Daten schon jetzt einzigartige Kampagnen zustande kommen, belegte Trautmann mit den Fallbeispielen Nike und Dove. Nike kreierte für die 100.000 User, die gemessen an ihren per Fuelband oder der App Nike+ übermittelten Laufstrecken am aktivsten sind, jeweils einen eigenen Animationsfilm, der auf persönliche Eigenheiten eingeht. Verantwortlich dafür war die Agentur AKQA. Dove hat dagegen die Twitter-Botschaften von Frauen analysiert. Pro Jahr versenden sie um die 5 Millionen Tweets, in denen sie mit ihrem Äußeren unzufrieden sind. Trauriger Höhepunkt: Die Oscar-Verleihung. Dieses Wissen nutzte Dove für eine Kampagne. Die Marke konterte negative Tweets mit ermutigenden Botschaften unter dem Hashtag #SpeakBeautiful. "So entstehen aus Insights tolle Ideen", bilanzierte Trautmann. "Brand Advertising wird seine Bedeutung bewahren."

Nach wie vor haben automatisierte Programme allerdings ihre Grenzen. "Das kann kein Computer", so Trautmann, und bezog sich auf die bekannte Realtime-Aktion des Keksherstellers Oreo und seine prompte Twitter-Reaktion auf einen Stromausfall ("You can dunk it in the dark").

Was wird in Zukunft relevant? Content Marketing, kreative Werbemittel, Mobile, Local, smarte Fernseher, meint Paskaljevic und wiederholte seinen Appell zur Zusammenarbeit: "Diese neue Komplexität können wir nur gemeinsam bewältigen." Gerade in Deutschland ist dafür noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten. "Ich wünsche mir mehr Kunden, die 'Ja, und' sagen statt 'Ja, aber'," so Google-Manager Hartje. 

Das leidige Thema Adblocker

Was könnte die rosigen Zukunftsaussichten zerstören? Wenn die Branche die Fehler der Display-Werbung wiederholt. "Penetrante Formate, so dass Leute das Kotzen kriegen", ärgern Trautmann. "Die Menschen dürfen gar nicht auf die Idee kommen, Ad Blocker zu installieren." Abwehr könnte sich auch entwickeln, wenn zu viele Daten ausgelesen und verarbeitet werden. Etwa wenn man im Schlafzimmer eine Botschaft "mit freundlichen Grüßen von Viagra" bekomme, die Tipps für ein längeres Vergnügen beim Sex enthält. "Wir alle haben Mitschuld." Abhilfe schaffen können deshalb nur die Kreativen selbst durch gute Cases. 

Gegen ausufernden Daten-Wahn sprach sich auch Hartje aus. Mit Beispielen total vernetzter Küchen beispielsweise schüre man Ängste. Sein Appell sei daher: "Analysieren Sie erstmal die Daten, die auf ihrer Website passieren!" 

Das Publikum lauschte aufmerksam der Diskussion und machte sich seinen eigenen Reim auf das Thema:

Die Bildergalereie zum W&V Data Marketing Day finden Sie hier im Netz.


Autor: Frauke Schobelt

koordiniert und steuert als Newschefin der W&V den täglichen Newsdienst und schreibt selber über alles Mögliche in den Kanälen von W&V Online. Sie hat ein Faible für nationale und internationale Kampagnen, Markengeschichten, die "Kreation des Tages" und die Nordsee. Und für den Kaffeeautomaten. Seit 2000 im Verlag W&V.