"Simulierte Werbung" und die Stolpersteine: Jan Geschke rechnet ab
Selten haben die W&V so viele Zuschriften erreicht wie zum Fall Jung von Matt/Stolpersteine. Viele verurteilen das Vorgehen der Agentur scharf. Für ADC-Mitglied Jan Geschke, CCO von Geschke Pufe Berlin, ist dieser Fall jedoch nur ein Symptom für ein viel tiefer gehendes Problem mit "Goldsteinen" in Kreativ-Wettbewerben.
Selten haben die W&V so viele Zuschriften erreicht wie zum Fall Jung von Matt/Stolpersteine. Viele verurteilen das Vorgehen der Agentur scharf. Für ADC-Mitglied Jan Geschke, CCO von Geschke Pufe Berlin, ist dieser Fall jedoch nur ein Symptom für ein viel tiefer gehendes Problem mit "Goldsteinen" in Kreativ-Wettbewerben, wie er in seinem Essay für W&V schreibt.
"Nein, wir wollen nicht auch noch über die Kollegen richten, die da im Ranglistepunkten-Endkampf kurz die moralische Orientierung verloren. Wer ohne Sünde ist unter uns, der werfe den ersten Stein. Das wirkliche Problem ist doch nicht, ob jemand beim Markführer mit Mahnmälern Medaillen-Tetris im Internet spielt. Die Goldstein-Krise ist nur ein Symptom.
Seit Jahren wird echte Werbung in den Awards Jurys durch simulierte Werbung ersetzt. Solange das noch in den Kinderschuhen steckte, konnte, wer wollte, es leicht entlarven. Plötzlich tolle Typo beim Grottenkunden? Geniale Lines beim Dummbatz? Anzeigen ohne Produkt, Responsemöglichkeit oder Inhalt? Check.
Aber es geht ja gar nicht mehr um Anzeigen in unserer Branche, die sind ein Relikt für Leute aus der Zeit als der ADC noch ein ADC war. Es geht heute um Filmchen, die so tun, als ob etwas stattgefunden hätte. Da wird mit wochenlangem Aufwand an Schwindelkonstrukten gezimmert, als wär die Wochenschau am Werke. Die Inszenierung der Inszenierung hat die werbliche Inszenierung abgelöst.
Preise gibt's kaum noch für Dinge, die es im Markt gab. Preise gibt es für Propagandastreifen, die Erfolge feiern, von denen im Internet oft nicht der Hauch einer Spur existiert. In der Direktjury vor ein paar Jahren haben wir so einen Goldstein noch gerochen und erlegt. Da hatte eine große Kreativagentur im Namen und unterzeichnet von einem großen Autokonzern ein Filmchen gedreht darüber, wie sie in Tankstellen angeblich Kassen aufgestellt hatten, die dem frustrierten Kunden beim Bezahlen auf dem Bon ausdruckten, wie weit er mit einem Kleinwagen der Marke mit dem Sprit gekommen wäre. Überzeugender Film. Tolle Idee. Silber.
Und dann riefen wir die Tankstelle, die man in dem Film sehen konnte, in Hamburg Steilshoop, an, weil uns aufgefallen war, daß auf dem Bon eine andere Schrift verwendet wurde als von der Kasse selbst. Die Besitzerin und die Kassiererin schworen, auf Lautsprecher, vor 17 Jurymitgliedern, daß es so eine Kasse bei ihnen nicht gäbe, nie gegeben hätte und das wäre ja infam sowas zu behaupten. Ein führender Kassenhersteller erklärte beim nächsten Telefonat, sowas sei unmöglich. Im Web fanden sich keinerlei Spuren - offenbar hatte niemand in Deutschland so einen Kassenbon bekommen. Die Agentur wurde aufgefordert, so eine Kasse beizubringen, machte einen Riesenwind, faxte Schwüre und EVs - nur auf die Kasse warten wir bis heute.
Silber weg, die andere Medaille für die Agentur auch, das war auch ein Goldstein. Waren trotzdem hoch oben im Ranking. War wohl nicht jede Jury so skrupulös und investigativ wie die unsere.
Denn das ist das zweite Problem. Habituiert an die polierten und zwang- wie realitätsfernen Goldsteine können die Kollegen in den Awardsjuries echte, richtige Werbung gar nicht mehr würdigen. Die ist zwischen all den funkelnden Lügengebäuden nämlich meist ein bissl schäbig und unspektakulär. Und deshalb driften echte Werbung und Goldsteine immer weiter auseinander. Es wird bald ein Paralleluniversum geben, in dem Goldsteinagenturen im Namen von Goldsteinkunden Filmchen drehen über Projekte, die es nie gegeben hat, außer in der Phantasie ihrer Erzeuger. Während echte Kunden und richtige Werber immer scheußlichere "richtige" Sachen machen, die dafür sorgen, das "klassische" Werbung gar nimmer funktioniert und noch mehr Kunden auf Appwege geraten.
Natürlich verdienen die Awardveranstalter an den Goldsteinen wie Bolle. Dasselbe Filmchen kann man ja in zehn Unterkategorien einsenden, macht zehnfache Einsendegebühr. Das globale potemkinsche Goldstein-Dorf funktioniert. Werbung, die was bewirkt, gibt's solange auf Google. Aber das ist ein anderes Irrsinnskapitel.
Weitere Reaktionen aus dem Markt lesen Sie in der aktuellen Ausgabe von Werben & Verkaufen Nr. 32.