Ja, sie klotzen!
Die Amerikaner haben ihren Ruf ja nicht irgendwoher. Und weil das Land so groß ist - mehr als 310 Millionen Menschen leben hier - und damit die Kaufkraft und der Medienmarkt, sind auch die Budgets groß: Damit kann man arbeiten, findet Oke Müller. Weil das, was von den Etats bei den Agenturen hängen bleibt, eine ganz andere Personaldecke ermögliche. Wo man in Europa zwei Planner auf fünf Marken arbeiten ließ, hat Müller in den Staaten für jede Marke seines Hauptkunden Mars Pedigree einen Senior Planner, der sich nur auf seine Marke konzentriert. "Damit kann man richtig was machen - und kann auch ganz andere strategische Beziehungen zu den Kunden aufbauen", schwärmt Müller. Der Planner ist außerdem stärker in die Produktentwicklung einbezogen - das zu verkaufen mache dann natürlich noch mehr Spaß, erzählt der Stratege.

Nur noch kurz die Welt retten
Nein, übertreiben wir mal nicht: nicht retten, aber ändern. Das ist der wohl größte Unterschied zu Werbung in Deutschland, wenn man dem Mann zuhört, der beide Welten kennt: "In Deutschland gehst du morgens in die Agentur", sagt Müller, "Helm auf und Reklame machen. Hier kommt man morgens rein und sagt sich, heute mach ich was, das die Welt verändert." Er leuchtet von innen, als er das sagt. Und die Besucherin aus München merkt, dass er derselben Strahlung ausgesetzt war wie sie - nur eben drei Jahre und nicht erst drei Tage lang: Der kalifornische Virus hat den Hamburger Müller erwischt, verstärkt durch die Atmosphäre im TBWA-Hauptquartier.

In Los Angeles kann man kaum anders als sich anstecken lassen von Dauerlächlern, von der Energie - und von dem viel zitierten und unendlich abgedroschenen Geist, dass hier alles möglich ist. Aber Klischee hin, Phrase her: Genauso fühlt es sich an. Und deshalb ist des Kaliforniers Lieblingswort einfach nur eines, das eben perfekt passt: Jeder hier findet alles "awesome". Weil sich alles spitzenmäßig gut anfühlt. (Wo die schlechte Werbung herkommt, welche Kunden anderes Denken suchen und wie die Agentur dabei vorgeht, lesen Sie auf der nächsten Seite.)

Sie sind froh, weil bei Ihnen in der Küche ein Kicker steht? Wie spitzenmäßig supertoll es bei TBWA/Chiat/Day in L.A. aussieht und was hier den Kickertisch ersetzt, sehen Sie in unserer Bildergalerie.

Jedenfalls fast alles ist "awesome". Um das deutsche Selbstwertgefühl ein bisschen aufzubauen: Genau wie in Deutschland, in Italien, in Thailand oder China ist hier der Großteil der Werbung langweilig, grauenhaft, richtig schlecht. Im Land der Superlative vielleicht sogar noch ein bisschen schlechter als an Isar, Elbe, Spree. "Aber die fünf Prozent, die gute Werbung hier ausmachen wie in jedem Markt, sind natürlich größer und deshalb sieht man in der absoluten Masse mehr gute Werbung, die aus Amerika kommt", rechnet Oke Müller vor. Relativ gesehen aber laufen in den USA viele brutale Verkaufsshows, die zwischen Flensburg und Garmisch wohl reihenweise zur totalen TV-Verweigerung führen würden. Und das soll Spaß machen? Bei TBWA/Chiat/Day offenbar schon. "Wenn Kunden hierher kommen", sagt Müller, "dann kommen die nicht her, um Verkaufsshows zu bekommen. Sie wollen auf unsere Rolle, die wollen ihre eigene 'Think different'-Werbung."

Think different: Apple und die Agentur haben sich gegenseitig groß gemacht - so groß, dass heute eine eigene TBWA-Apple-Kommunikationsabteilung rund 250 Leute beschäftigt: Im TBWA Media Arts Lab nebenan arbeiten alle ausschließlich für Apple (mehr zu TBWA MAL und Jobs/Apple lesen Sie hier). Die rund 750 Menschen hier im Hauptquartier kümmern sich um die übrigen Kunden: Die preisgekrönte Gatorade-Replay-Kampagne ist hier entstanden, die Kampagne für das Elektroauto Nissan Leaf, Infinity, Activision/Call of Duty, Pepsi und Visa arbeiten ebenfalls mit der Agentur. Und kommen mit einer Erwartungshaltung.

In der riesigen Halle, die in Großraumbüros, Konferenzräume, Etagen, Treppen, Laufstege und Glasbüros unterteilt ist, entdeckt man vereinzelt auch Hinweise auf die großen Kunden: In der oberen Ebene der Halle ist eine große Plakatwand aufgestellt. Lange zeigte sie den Chihuahua von Taco Bell, heute ist ein Nissan darauf zu sehen, morgen womöglich wieder etwas anderes. So wie an der Wand des kleinen Besprechungsraums, in dem wir nun sitzen, nachdem wir uns an der Kaffeestation versorgt haben, die sich vor einer Starbucks-Theke nicht verstecken muss. Die Nische mit den zwei roten Sofas ziert eine Collage mit zahlreichen, wechselnden Arbeiten (siehe Foto rechts).

Markenvisionen, auf den Hund gekommen
Oke Müllers Anteil an diesen Arbeiten ist größer, als er das zu Hause in Deutschland war. "Hier in Amerika gibt es eine ausgeprägte Planningkultur", strahlt der Planner. Die Zusammenarbeit mit den Kreativen sei toll, dynamisch, "Planning hat hier eine Rolle, die Spaß macht", sagt Müller. Oft gibt es Arbeitsgruppen mit den Kunden, eine Art Strategiewerkstatt mit Kunde, Beratern, Kreativen und Plannern in den großen Besprechungsräumen. Die werden umgestaltet zu "Inspirationswelten" zu Markt, Zielgruppe und Produkt, erzählt der Deutsche: "Es kann sei, dass wir einen Raum in einen Supermarkt umwandeln oder dass wir ein Kinderzimmer für Spielekonsolen und Videogames aufbauen." Ziel ist es, damit zu Markenvisionen zu kommen, den Markenkern und die Philosophie dahinter zu erarbeiten.

Das hat weit reichende Folgen: Zum Beispiel, dass in der Agentur überall Hunde herumlaufen. Für den Kunden Pedigree musste sich jedes Team um einen Hund kümmern - die Kampagne ist fertig, die Hunde sind geblieben. Zum Glück ist von der Inspirationswelt für Farmville nichts mehr zu sehen: "Dafür haben wir eine Farm angelegt mit Schafen und Hühnern - das bringt Leben rein, aber dabei kommen gute Sachen raus", sagt Müller. Auf dieser Basis arbeiten die Planner mit den CDs Briefings aus, die häufig zu neuen Inspirationswelten führen - oder zu Ausflügen: Dann fahren Teams zum Briefing dann in ein Tierheim oder ins Sportstudio oder zu einem Footballspiel, etwa für Gatorade - oder versammeln sich in der Umkleidekabine im Dodgers Stadion. Am Ende dieses Arbeitsprozesses, den der brave Deutsche nun vielleicht für kindische Schulausflüge halten mag, steht ein Zusammengehörigkeitsgefühl, beschreibt es der temperamentvolle Müller: "Anders als in Deutschland entsteht hier das Bewusstsein, dass wir alle für eine Sache arbeiten - was am Ende aus dem Haus geht, das mögen alle."

Dabei hielt die Autorin aus München schon das Ambiente in den Räumen der Agentur für kreativ und inspirierend: Hier gibt es eine Surferbar, einen Basketballplatz, einen Park - alles innerhalb der großen Halle, in der die TBWA/Chiat/Day-Teams arbeiten. (Einen Eindruck von der Atmosphäre bekommen Sie in der Bildergalerie.)

(Welche Rolle Globalisierung und Awards bei den Kaliforniern spielen, erfahren Sie auf der nächsten Seite - unter anderem von Executive Creative Director Patrick O'Neill.)

TBWA/Chiat/Day, Los Angeles, hat gerade eine durch und durch globale Kampagne herausgebracht: für den Kunden Visa anlässlich der Olympischen Spiele 2012 in London. Patrick O'Neill ist zu uns gestoßen; der Executive CD erinnert sich:" Für Visa zu Olympia in Peking waren es zwei Länder, für Olympia Vancouver fünf, die aktuelle Kampagne wird in 18 Ländern gezeigt!"

Schon seit ein paar Jahren, gern zu Sportereignissen wie der Fußballweltmeisterschaft, setzt Visa auf den Claim "Go Visa". "Und der wird interpretiert in den lokalen Märkten", sagt O'Neill. "'Olympia go world' ist die Idee. Es geht um Themen, die global geteilt werden, Geschichten über die Spiele, verschiedene Sportler aus allen Ländern." Diese Geschichten hat das Team gesucht und dann ausgesiebt, welche davon zur "universellen menschlichen Wahrheit" passt, sagt der gebürtige Kalifornier - der auch so aussieht, groß, blond, sportlich.

Global, lokal
Sportlich wie das Fallbeispiel, das Patrick O'Neill aus der aktuellen Visa-Kampagne erzählt: "Elaina ist russische Sportlerin. Weil sie zu groß ist, ist sie aus ihrem Olympia-Team Gymnastik hinausgeflogen. Aber sie hat nicht aufgegeben und fährt nun nach London: Das ist eine Geschichte, die in jedem Land verstanden wird. Danach suchen wir die Geschichten aus, die global funktionieren, aber lokale Relevanz haben in jeder Region." Zwei oder drei werden es am Ende sein - obwohl die Auswahl deutlich größer sei.

Die Geschichten sind also nicht das Problem - aber globales Arbeiten ist doch eine Herausforderung für eine Agentur, die selten nötig hat, über die eigenen Landesgrenzen hinauszuschauen? "Ja", sagt der Kreativchef und lacht, "global schwierig ist, dass du Telefonkonferenz um sechs Uhr früh hast oder abends um elf." Klar sei viel mehr zu besprechen und abzustimmen, was Tonalität, Kultur, Marke betreffe. Speziell bei einem Kreditkartenunternehmen: "Das Thema Schulden ist überall grundverschieden - aber die Idee, dass du etwas tun willst und etwas Aufregendes erleben, das ist universell."

Eine weitere Kampagne, an der der Kreativchef sehr hängt, ist "Pacific Standard Time" - eine lokale Kampagne mit starkem Digital-Bezug - und schwierig, weil selbst O'Neill einräumt, dass die USA und speziell Kalifornien nicht zu allererst für Museen, Kunst und Kultur bekannt sind: 65 Museen in Südkalifornien zeigen eine zugleich Ausstellung über die Kunst in Los Angeles zwischen 1945 und 1980 - jedes Museum stellt aber andere Exponate aus. Online kann der Besucher schon mal entdecken, stöbern, seine Lieblingsstücke suchen und sammeln, indem er sich für "My Time" zwischen Symbolen entscheidet: Gitarre oder Palette, Maus oder Vase, Hausflur oder Sessel. Nach zehn Entscheidungen schlägt die Webseite bestimmte Ausstellungen vor, die den Geschmack des Gastes treffen.

Goldideen & Awards
Kulturkampagnen werden in Deutschland von vielen als Goldideen belächelt - oder beneidet. Oke Müller kennt das - und stellt klar: "Fake Ads, damit man sie einreichen kann, gibt es hier nicht." Und zwar nicht nur bei TBWA - das ist in den USA gar nicht üblich. Patrick O'Neill erklärt, die Wettbewerbe in den Staaten würden solche Einreichungen disqualifizieren. Hier gelte das als Betrug.

Siegen liebt man aber auch hier. "Es ist ein fantastisches Recruitingtool und es verbessert die Bedeutung kreativer Leistung", sagt der Kreative. Aber er schielt nicht nach kleinen Preisen für ein Plakat hier, eine Anzeige dort: Cannes Titanium, der Preis für integrierte Kampagnen, ist interessant für den Agenturriesen TBWA/Chiat/Day. "Wir konzentrieren uns nicht auf ein Medium, sondern haben eine 'Media Arts Philosophie' zu allen Kampagnen", sagt O'Neill und begründet mit dieser Kultur seine Treue zur Agentur: Elf Jahre arbeitet er schon für TBWA/Chiat/Day - fünf davon in New York, sechs in Los Angeles. Eine lange Zeit für die unstete Branche.

Und bestätigt noch mal: LA ist das Berlin, New York das Hamburg der US-Werbung: "Die Kreativität ist hier offener", sagt Patrick O'Neill. Darum passt die Hauptstadt der Unterhaltung perfekt zur Werbekultur, sagt Oke Müller: "Werbung ist unsere Branche, aber im Grunde geht es doch um Unterhaltung: darum, eine Marke zu bilden, die Spaß macht, statt Werbung mit der Brechstange." Klingt nicht, als hätte er vor, bald zurückzukommen.

Wir können Sie aber mitnehmen: Hier ein Zweiminutenvideo, das die Agentur zur Unternehmenskultur und zum Anwerben motivierter Mitarbeiter gedreht hat.


Autor: Susanne Herrmann

schreibt als freie Autorin für W&V. Die Lieblingsthemen von @DieRedakteurin reichen von abenteuerlustigen Gründern über Medien und Super Bowl bis Streaming. Marketinggeschichten und außergewöhnliche Werbekampagnen dürfen aber nicht zu kurz kommen.