Kommentar:
Dann lieber Lindner
Fast jeder findet Digitalisierung toll. Angeblich. Aber wenn ein Politiker digitalisieren will, ist es auch nicht recht. Ein Kommentar zu Christian Lindners Auftritt auf der Internet World Expo.
Bismarck ist nicht unbedingt der erste, der einem auf der Internet World Expo einfallen würde. Aber sein Spruch: "Es wird niemals so viel gelogen wie vor der Wahl, während des Krieges und nach der Jagd" müsste dringend um einen vierten Punkt ergänzt werden: "Und rund um die digitale Transformation." Denn die finden zwar alle irgendwie "superspannend" und "total wichtig für unsere Zukunft", aber zu anstrengend sollte sie nicht sein.
Die Kluft zwischen Anspruch und Bequemlichkeit zeigt sich am Beispiel des Keynote-Speakers Christian Lindner. Ich selbst fand die FDP immer furchtbar, habe schon wegen meines rheinland-pfälzischen Migrationshintergrundes Tränen über die Rainer-Brüderle-Untertitel in der "heute show" gelacht und kriege immer noch Spontan-Migräne, wenn der Parteichef - so wie gestern - über "junge Mütter" spricht, denen deutsche Bürokraten angeblich immer wieder verbieten, abends nach ihren Mails zu schauen. Trotzdem ist Christian Lindner einer der wenigen deutschen Spitzenpolitiker, die verstanden haben, was Digitalisierung heißt. Und dass man in Estland darüber mindestens so viel lernen kann wie im Silicon Valley.
Man kann Lindners politischen Schlussfolgerungen und ihn als Person ablehnen. Aber wer sich ernsthaft mit der Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft beschäftigt, sollte sich inhaltlich mit der Partei auseinandersetzen - und nicht auf dem Bullshit-Bingo-Niveau der 90er Jahre ("Neoliberalismus"! "Partei der Besserverdiener!" "Möllemann!").
Vielleicht ist es nur in meiner Filterblase so und Wahrnehmungen sind immer selektiv: Aber ich wundere mich oft über Agenturchefs, die im Social Web den Digital Hero geben (obwohl ihre eigene Agentur eher so mittelinnovativ ist), "immer schon grün gewählt haben" und gleichzeitig den Teufel tun würden, in ihrem Unternehmen auch nur einen Betriebsrat zu akzeptieren.
Dann lieber ein verkrachter Startup-Gründer aus Wermelskirchen, der einer relativ klaren und ziemlich unbeliebten Linie folgt. Und nein, ich weiß auch nicht, warum Jamaika gescheitert ist, denn ich war anders als die Facebook-Mehrheit nicht bei den Verhandlungen dabei. Ich kann nur vermuten, warum die Enttäuschung vieler Manager so tief ist und die Wut über Lindner so groß: Weil die FDP fürs Fressen sorgen sollte - und die Grünen für die Moral.