Ursprung des Problems sei die seit Jahrzehnten andauernde Automatisierung, die mit dem Vormarsch künstlicher Intelligenz noch eine ganz andere Qualität erreiche, erklärte der für eher düstere Vorhersagen bekannte Oxford-Ökonom Carl Benedikt Frey. "Wir sehen, dass die Jobs mit mittlerem Einkommen quer durch die Gesellschaft verschwinden", betonte er. "Selbst Leute, die nicht arbeitslos geworden sind, aber in Jobs mit schlechterer Bezahlung und niedrigerem sozialen Status abrutschten, sind unterm Strich Verlierer der Automatisierung." Und Jobs, die dank neuer Technologien entstehen, verlangten nach ganz anderen Qualifikationen als bisher.

"Ericsson entlässt 1000 Leute, Ericsson stellt 1000 neue ein - so funktioniert das", sagte Frey. Doch die Diskrepanz zwischen Gewinnern und Verlierern werde oft übersehen, weil die Politik zu sehr auf Durchschnittswerte vertraue. "Wenn Sie eine Hand im Kühlschrank und die andere im Ofen haben, ist von der Durchschnittstemperatur her auch alles in Ordnung - aber das ist Unsinn, so zu rechnen", kritisierte Frey.

Europa soll aktivere Rolle übernehmen

Was also tun? Die vom Medienkonzern Burda veranstaltete DLD ist im Geiste eine europäische Konferenz. Und so drehte sich ein großer Teil der Debatten darüber, wie Europa die Zukunft verbessern kann - und zugleich dem Schicksal entgehen, nur zum Schlachtfeld der Tech-Giganten aus Amerika und China zu werden. Bundesaußenminister Sigmar Gabriel (SPD) forderte in Sachen Technologie eine aktivere Rolle der EU in der Welt. Der frühere Telekom-Chef René Obermann, der heute ein Investor ist, brachte eine europäische Version der US-Forschungsagentur DARPA ins Gespräch, die angeschlossen ans Verteidigungsministerium mit staatlicher Finanzierung an neuen Technologien arbeitet.

Tom Wehmeier vom Kapitalgeber Atomico sieht die europäische Tech-Industrie so stark wie nie zuvor. Es sei nur eine Frage der Zeit, wann das Ökosystem globale Champions hervorbringen werde. Und Berger-Chef Charles-Edouard Bouée sieht vor allem in der künstlichen Intelligenz eine große Chance für deutsche und europäische Firmen. Die großen Player der Plattformen in den USA, die mit Daten und Werbung heute viel Geld verdienten, wollten an ihrem Geschäftsmodell festhalten. Die Europäer könnten unbelastet davon die Chancen der künstlichen Intelligenz ergreifen, argumentiert er.

Künstliche Intelligenz verringere auch die Gefahr, dass die Autoindustrie zum bloßen Zulieferer für die großen Plattformen degradiert werden, schätzt Bouée. In Deutschland gebe es außerdem viele gut ausgebildete Menschen, eine starke Forschung und einen starken industriellen Kern. (fs/dpa)

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