Und plötzlich trauen diese neuen deutschen Serien dem Zuschauer auch mal was zu: Er darf mitdenken, er kann dranbleiben, wenn er möchte, er darf sich auf die Figuren einlassen. Aber.

Vollgas in die Nische

Beim Prescreening zeigte Netflix die ersten drei Folgen vorab im Kino, alle zehn Folgen von "Dark" Staffel eins stehen seit 1. Dezember auf der Plattform zum Abruf. Gleich zu Beginn macht die Serie dem Zuschauer sehr deutlich: Hier wird es um die Linearität der Zeit gehen, sie wird infrage gestellt.

Los geht die Geschichte 2019, schon bald macht eine weggeworfene Raider-Verpackung klar, dass auch die 80er eine Rolle spielen werden: Seit Raider 1991 zu Twix geworden war, steht der alte Markenname unter Eingeweihten als Metapher für praktisch alles, was damals anders war. (Folge drei von "Dark", die hauptsächlich im Jahr 1986 spielt, liefert auch noch den Werbespot dazu - und ein Musikvideo der 80er-Jahre-Ikone Nena.) Das Zeitreisegefühl ist angekommen bei den Zuschauern.

Die ersten drei Folgen steigern die Spannung und sind, trotz des behutsam-komplexen Aufbaus der Kleinstadtwelt rund um vier Familien und ihre Geheimnisse, recht temporeich. Ab Folge vier gehen die Serienschöpfer Boran Bo Odar und seine Partnerin Jantje Friese dann erst mal vom Gas, bevor in Folge acht das Tempo wieder anzieht.

Mutige Genre-Entscheidung mit "Tatort"-esken Momenten

Im liebevoll als "Dark"-Kulisse gestalteten Kino in München (unten) stellte sich Regisseur Odar nach dem Screening Fragen aus dem Publikum, das die drei Teile wohlwollend beklatschte. Er spricht viel über die Freiheiten, die Netflix seinen deutschen "Dark"-Machern ließ. Man merkt ihm an, dass er die Arbeit mit dem US-Konzern und sein Mystery-Projekt geliebt hat.

Was Odar weniger liebt - und das hat er sicherlich mit vielen Stramingzuschauern gemeinsam - sind deutsche Fernsehproduktionen. Als Synonym für erfolgreiche und gewöhnliche TV-Massenware hält der "Tatort" her. Boran Bo Odar nennt ihn "mutlos".

Wo geht's nach Winden? Die PR-Agentur Schröder und Schömbs hat dafür gesorgt, dass sich das Prescreening-Publikum in die "Dark"-Welt versetzt fühlt.

Wo geht's nach Winden? Die PR-Agentur Schröder und Schömbs hat dafür gesorgt, dass sich das Prescreening-Publikum in die "Dark"-Welt versetzt fühlt.

Was stärker gewirkt hätte, wenn nicht die dritte Folge von "Dark" mit einer Szenenfolge ausgeklingen würde, die den Mut von "Dark" infrage stellt. Offenbar um potenzielle Linear-Gucker nicht zu überfordern, wird in Doppelbildern das Personal aus den Jahren 2019 und 1986 erklärt.

Einen Zuschauer, der sich bis hierhin auf eine skurrile düstere Geschichte um verschwundene Kinder, Zeitreisen und Familiengeheimnisse einer Kleinstadt eingelassen hat, darf man ruhig fordern. Das wird leider von Odar und Friese an dieser Stelle und mit dem einen oder anderen Zaunpfahl "Tatort"-esk unterlaufen.

Was schade ist. Mehr Mut, sich auf die eigene Geschichte, die Intensität der Figuren und die Kapazitäten der Zuschauer zu verlassen, hätten die "Dark"-Macher haben dürfen. Auch wenn oder gerade weil ihre Story vielschichtig und komplex ist.

Durchhalten lohnt sich.

Deutsche Serie hat dennoch Zukunft

"Dark" ist trotzdem ein gelungenes Beispiel: Deutsche Filmemacher können spannende Serien erzählen. Wenn man sie nur lässt. Das hat "Babylon Berlin" bewiesen, das beweist auch "Dark". Mystery, das ist eben nicht für jeden was - und will es auch nicht sein.

Der Versuchung, amerikanische Vorbilder zu imitieren, erliegen Odar und Friese nicht. Der typisch deutsche Kleinstadthintergrund (so jedenfalls skizziert Odar in der Fragerunde seine und Frieses Biografien) ist in jeder Szene von "Dark" erkennbar, deutsche Befindlichkeiten wie die Angst vor Atomkraft in den 80ern verankern die Geschichte in der hiesigen Realität - wo die Zeitreisethematik sie dann herauszupft, um den Zuschauer auf eine spannende Reise mitzunehmen.

Die Schauspielriege ist stark, die technische Umsetzung der Serie ebenfalls, die Storyidee ist originell, die Genre-Wahl mutig - und die oben erwähnten Schönheitsfehler vermutlich darauf zurückzuführen, dass Jantje Friese, Boran Bo Odar und Netflix mit "Dark" etwas wagen, was es halt in der Form in Deutschland noch nicht gegeben hat. Und was trotzdem international funktioniert. Kleinstadt ist überall, die Frage nach "Was wäre wenn" universell.

Wenn "Dark" weltweit gut läuft, wird auch das Vertrauen in die eigenen Qualitäten zunehmen.

Und - das hat Odar beim Prescreening angedeutet: Wenn "Dark" in den 190 Netflix-Ländern fleißig geguckt wird, wird es eine zweite Staffel geben. "Ideen sind da", sagt der Regisseur. Auserzählt sei "Dark" nach den ersten zehn Folgen nicht. Um aus der Serie selbst zu zitieren: Das Ende ist der Anfang.

Also: Nur Mut!

Das sagen die Zuschauer

Die Resonanz ist - erwartbar - gemischt, das Lob scheint derzeit zu überwiegen (etwa auf Facebook). Kritisiert wird die Tonqualität, einige der positiven Kommentare lassen sich beschreiben mit "Für eine deutsche Produktion nicht schlecht". Viele internationale Kommentare bei Facebook und Twitter (Englisch und Spanisch) loben die deutsche Produktion.

Ein paar Reaktionen auf Twitter haben wir für Sie gesammelt. 

Dark Prescreening und Zeitung

Ein Szenenbild und Requisiten sorgen beim Prescreening für Stimmung. Sogar eine Windener Tageszeitung (r.) zu "Dark" hat die PR-Agentur produziert.


Autor: Susanne Herrmann

schreibt als freie Autorin für W&V. Die Lieblingsthemen von @DieRedakteurin reichen von abenteuerlustigen Gründern über Medien und Super Bowl bis Streaming. Marketinggeschichten und außergewöhnliche Werbekampagnen dürfen aber nicht zu kurz kommen.