Medienwächter stutzen: RTL und Vox zeigen täglich neun Stunden Reality-TV
"Big Brother" war der Anfang. Heute machen diverse reality-Formate fast die Hälfte des Programms einiger Privatsender aus - rechnen die Medienanstalten in ihrem neuesten Programmbericht vor.
Bei Vox machen knapp 40 Prozent des Programms Reality-Formate aus, bei der Mutter RTL sind es rund 38 Prozent - und Sat.1 zählt knapp 30 Prozent am Gesamtprogramm zum weit gefassten Genre. Zu diesem Schluss kommt die kontinuierliche Programmbeobachtung durch die Potsdamer GöfaK Medienforschung. Unter der Leitung der Professoren Joachim Trebbe und Hans-Jürgen Weiß werden dabei die acht wichtigsten deutschen Vollprogramme erfasst und deren Trends im aktuellen Programmbericht der Medienanstalten vorgestellt.
"Umgerechnet auf Programmstunden bedeutet das Ergebnis, dass Vox und RTL an einem durchschnittlichen Tag jeweils etwa neun Stunden mit Reality-Formaten bestreiten, bei Sat.1 sind es etwa sieben Stunden. Diese Zahlen belegen, welch große Bedeutung diese Formate für die privaten Vollprogramme haben, denn pro Tag werden insgesamt etwa 19 bis 20 Stunden Programm ausgestrahlt, der Rest entfällt auf Werbung, Promotion und Sponsorhinweise", rechnen die Medienwächter vor. Zu Reality-TV zählen sie "Scripted-Reality-Formate", "Script-affine Formate", bei denen aus den Aufzeichnungen nicht eindeutig hervorging, ob sie gescriptet sind (Doku-Soaps, Daily Talks) und schließlich "Realityshows". Weniger Realitätsnahes ist bei RTL II mit rund 16 Prozent Programmanteil, Kabel eins sowie ProSieben mit jeweils unter zehn Prozent zu finden.
Zwischen den Zeilen der Pressemitteilung sickert durch, dass die Medienwächter angesichts des hohen Reality-Anteils im privaten TV schon stutzig geworden sind - die "Realitätsunterhaltung" macht aus ihrer Sicht bei einigen Sendern fast die Hälfte des Programms aus. Klare Kritik am Trend hin zu diesen Formaten wird aber nicht formuliert. Das wird auch schwierig, zumal die Wissenschaftler darauf hinweisen, dass sich die Sendungen des weit gefassten Genre-Begriffs "einer Zuordnung zu gängigen Programmkategorien entziehen". Ihr "Bauprinzip" sei geradezu die Vermischung: "Es verschwimmen nicht nur die Grenzen zwischen Realität und Fiktion, sondern auch die zwischen den traditionellen Programmgenres wie etwa Dokumentation und Erzählung, Soap Opera und Ratgebersendung", heißt es da. "Big Brother" hat vor mehr als einem Jahrzehnt den Anfang gemacht- heute zieht sich das Genre in verschiedenen Facetten durch alle Programme. TV-Nachschub ist auch immer wieder bitter nötig - aktuell verliert das Fernsehen erstmals seit Jahren bei der Sehdauer. Durchschnittlich vier Stunden und zwei Minuten pro Tag verbrachten die Deutschen im ersten Quartal 2012 vor dem Fernseher. Das sind sechs Minuten weniger als in den ersten drei Monaten 2011, wie eine Media-Control-Sonderauswertung zeigt.
Auch wenn Kritik der Medienwächter am Reality-Boom erst einmal ausbleibt: Die Ergebnisse wollen sie durchaus diskutieren. Wörtlich heißt es: "Das Thema ‚Reality-Fernsehen‘ hat die Landesmedienanstalten sowie die gemeinsamen Gremien bereits ausführlich beschäftigt. Auf Grundlage der empirischen Erkenntnisse aus dem Programmbericht werden die Medienanstalten die Debatte im laufenden Jahr zu verschiedenen Anlässen intensiv weiter führen, auch öffentlich." Der nächste Workshop zum Thema wird schon angekündigt: Die Medienanstalten laden zu "Wirklich. Fernsehen. Wirklicher?" am 10. Mai nach Berlin. Dort sollen Inhalte und Herausforderungen von Scripted Reality gemeinsam mit Produzenten, Journalisten und Medienwissenschaftlern diskutiert werden.