Zurück zum Gedicht: Im Zusammenhang also in Ordnung, ohne nicht. Aus dem Zusammenhang gerissen allerdings wird das Gedicht von Jan Böhmermann derzeit in der öffentlichen Debatte und nun auch vor dem Landgericht Hamburg.

Die Provokation Jan Böhmermanns muss man nicht mögen, geschmackvoll finden oder lustig. Dass allerdings allein das vorgetragene Gedicht beurteilt wird, verhindert eine sachliche Auseinandersetzung damit, ob Böhmermanns Auftritt zur Satire zählt und ob er Persönlichkeitsrechte verletzt oder nicht. Denn das Gedicht ist lediglich eine Zutat des satirischen Beitrags aus dem "Neo Magazin Royale". Und für sich genommen weder verständlich noch Satire.

Losgelöst vom Zusammenhang reden sich Leute die Köpfe heiß darüber, ob man den türkischen Präsidenten in dieser Weise verumglimpfen darf. Und darüber haben wir nun sogar einen Schiedsspruch der Hamburger Richter (nein, darf man überwiegend nicht, nur manche Zeilen davon sind erlaubt).

Tatsächlich gesagt hat Jan Böhmermann in der Sendung vom 31. März: Inhaltlich humorvoll mit dem umzugehen, was politisch in der Türkei geschieht, sei in Europa gedeckt von der Meinungs- und Pressefreiheit. Recep Tayyip Erdogan hatte nach einem Beitrag von Extra drei den deutschen Botschafter einbestellt, um die Veröffentlichung zu stoppen. 

"In Deutschland ist so was erlaubt", stellte Böhmermann klar. Es gebe aber Fälle, die auch in Deutschland nicht erlaubt seien. Als Beispiel führte er "Schmähkritik" an, eine Form der Diffamierung, die herabsetzt und unter der Gürtellinie agiert – "das kann bestraft werden", sagte Böhmermann. Und erläuterte, was nicht geht, mithilfe des "Schmähgedichts". Unterbrochen immer wieder von Einlassungen, was nicht erlaubt sei.

Auch das muss man nicht mögen, kann es billig, geschmacklos, schlau oder brillant finden. Aber um diesen Beitrag als Gesamtwerk geht es ja leider nicht mehr (was auch den ein oder anderen Anwalt verwirrt). Das Stilmittel der Übertreibung, eines der wichtigsten der Satire, wird hier aus dem Kontext gerissen, seziert und abgeurteilt. Als Nicht-Satire, damit also als verbotene Verletzung der Persönlichkeitsrechte.

Diese Art der Beurteilung jenseits jedes Zusammenhangs führt Artikel fünf des Grundgesetzes ad absurdum. Obwohl der ganze Fall ein trefflicher Beleg dafür ist, dass Präsident Erdogan genau das ist, was Böhmermann und Extra drei ihm vorwerfen: ein empfindlicher Despot, der Meinungsfreiheit und Kritik nicht vertragen kann.

Vorrangig, und das ist in der Rechtssprechung für die Verurteilung entscheidend, muss es um den Angriff auf die personale Würde des Menschen gehen – vorrangig, so könnte man es aus dem Gedicht im Kontext des Beitrags auch sehen, ging es im "Neo Magazin Royale" aber um die Bloßstellung der Missachtung der Meinungsfreiheit seitens des Präsidenten.

Und da darf Satire vor Frechheiten nicht Halt machen. Wie anders soll sie auf Schwachstellen von Mächtigen und Institutionen hinweisen als indem sie den Finger dahin legt, wo es wehtut? Satire ist laut Wörterbuch eine "Kunstgattung (Literatur, Karikatur, Film), die durch Übertreibung, Ironie und [beißenden] Spott an Personen, Ereignissen Kritik übt, sie der Lächerlichkeit preisgibt, Zustände anprangert, mit scharfem Witz geißelt" (Duden).

In diesem Sinne darf Satire – so sie denn eine ist – alles. Was Satire ist und ob der Fernsehbeitrag im "Neo Magazin Royale" samt Gedicht dazugehört, das ist die Frage, die derzeit geklärt werden muss – nicht die, ob einige Zeilen in einem Gedicht unter die Gürtellinie gehen.


Autor: Susanne Herrmann

schreibt als freie Autorin für W&V. Die Lieblingsthemen von @DieRedakteurin reichen von abenteuerlustigen Gründern über Medien und Super Bowl bis Streaming. Marketinggeschichten und außergewöhnliche Werbekampagnen dürfen aber nicht zu kurz kommen.