"Wir gelten ja sonst als nicht belastbar"

Dann kommt er, mein Gesprächspartner. Schnell reicht er mir die Hand und entschuldigt sich für die Verspätung. Während er sich gehetzt seine Jacke auszieht, kleckert er Kaffee auf sein Macbook. Er, geschätzt Ende 20, tätowiert, sprüht vor Ideen, schneller Redefluss.

Nägel kauend führt er mich durch sein Produkt. Ich bin jedes Mal beeindruckt, in welcher Geschwindigkeit die Startups arbeiten und leben. Danach kommen wir ins Plauschen und er erzählt, dass der Stress ihn gesundheitlich angreift und er nach Wegen der Entschleunigung sucht.

Mir fallen weitere Beispiele ein: Ein ehemaliger Chef, der die gleichen Magentabletten auf dem Schreibtisch stehen hat, die ich mal nehmen musste. Der Verkaufsleiter eines Online-Anbieters, der mir in einer Bierlaune gesteht, dass er seit Jahren einen Tinnitus hat, den er aber lieber verschweigt. Wir gelten ja sonst als nicht belastbar. Die Geschwindigkeit setzt allen zu.

Verordnete Entschleunigung – ein Selbstversuch

Und auch mir geht es nicht anders. Im letzten Sommerurlaub sagte mir meine Frau völlig zu Recht, dass sie sich wünsche, dass ich den Urlaub weniger mit meinem Smartphone und meinem Macbook verbringen solle und mehr mit der echten, der realen Welt. Klar mache ich das. Also, E-Mails ausschalten und keine Telefonate annehmen. Verordnete Entschleunigung also.

Was für Stressvermeidung sorgen sollte, kehrte sich aber schnell ins Gegenteil. Der erste Tag war noch durchaus entspannt, aber schon am zweiten Tag zählte ich innerlich die noch nicht beantworteten E-Mails.

Bei mir sammeln sich am Tag um die 100 E-Mails an, dazu dann Terminanfragen … das mal schnell hochgerechnet auf meine Urlaubstage - und dann fing er an, der Stress. Der Gedanke an den ersten Arbeitstag, den ich nur für meine E-Mails benötigen würde, ließ ein dauerhaftes Stechen in meiner Schläfe entstehen. Ich habe dann die zwei Wochen durchgehalten, aber erholt kam ich nicht aus dem Urlaub. Detoxification hat bei mir nicht funktioniert.

Selbst geschaffener Freizeitstress

Immer wieder lese ich, dass man Sport machen muss, um einen Gegenpol zur Arbeit zu finden. Ich spiele eigentlich Golf, aber irgendwie ist das bei der Allgemeinheit als Sport nicht anerkannt. Also Laufen; jetzt seit einem halben Jahr. Aber natürlich mit der Runtastic App, um mir im Nachhinein auch zu beweisen, dass ich auch wirklich etwas geleistet habe.

Schnelle Zeiten kann ich dann ja auch auf Facebook teilen. Nicht, dass ich jemals eine Zeit laufe, die das rechtfertigen würde. Und natürlich mit der richtigen Playlist von Spotify über meine Beats. Während der Runde gehe ich dann meine Meetings für den anstehenden Tag durch. Stress empfinde ich dabei nicht, aber Entschleunigung findet auch nicht statt. Was bedeutet Stress?

Also frage ich mich: Was verursacht bei mir eigentlich Stress? Spontan denke ich an Stau, unzureichendes Wlan, schlendernde Touristen in der Innenstadt, Geschwindigkeitsbegrenzungen auf der Autobahn, lange Entscheidungswege und Behördengänge. Ja, mein Leben dreht sich um Geschwindigkeit - und es ist nicht unwahrscheinlich, dass man dabei ins Schleudern kommt.

3 Regeln für mehr Zeit

Sich 30-er-Zonen zu schaffen, ist unabdingbar. Ich versuche mich an drei Dinge zu halten, um mir die nötige Zeit zu verschaffen:

1. Ich vertraue meinen Mitarbeitern. Sie sind alle fähig, Verantwortung zu übernehmen. Delegieren mit echter Verantwortung sorgt dafür, dass ich ernsthaft entlastet werde und meine Mitarbeiter motiviert sind. Außerdem wird die Produktivität des Unternehmens merklich erhöht.

2. Das Scheitern zulassen. Ich neige dazu, alles perfekt machen zu wollen. Fehler verunsichern mich und das will ich verhindern. Das ist aber unmöglich. Scheitern gehört dazu, auch wenn es weh tut.

3. Mein E-Mail-Account ist am Ende des Tages leer. Alle Mails, die im Laufe des Tages nicht beantwortet sind, waren nicht dringend genug. Ein überfülltes Postfach macht mir nur dauerhaft ein schlechtes Gewissen, bringt mich aber auch nicht dazu, alle zu beantworten.

Lieber doch mal Kühe zählen?

Während ich den Stressball knete, den ich als Abschiedsgeschenk von dem Startup bekommen habe, rauscht der ICE mit hoher Geschwindigkeit - meiner Geschwindigkeit - an Bergedorf vorbei. Ich denke mir: "Vielleicht arbeite ich das nächste Mal nicht im Zug. Vielleicht gucke ich das nächste Mal nur aus dem Fenster. Vielleicht zähle ich einfach die Kühe in Mecklenburg-Vorpommern." Ja, genau …

Artikel verschickt: 23.45 Uhr (eigentlich wollte ich ja die neue Staffel "Suits" anfangen…)


Autor: W&V Gastautor:in

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