Shitstorms im Netz sind meist ein kurzlebiges Phänomen, die Erregung ebbt bald ab. Facebook-Seiten wie die im Handelsblatt herangezogene "Amazon? Nein Danke!" (die sich laut der Zeitung zunehmender Beliebtheit erfreut) haben weniger als 5.000 Mitglieder. Ein "ich kaufe da nie mehr" ist in der Empörung schnell ausgesprochen oder getippt - das heißt aber noch nicht, dass den Worten Taten folgen.

Christoph Bornschein, Geschäftsführer der Social-Media-Agentur Torben, Lucie und die gelbe Gefahr denkt allerdings, "dass es im Fall Amazon tatsächlich messbare Umsatzrückgänge gegeben hat". Das seien zwar nur kurzfristige Effekte, aber die seien existent. Auch er sagt aber: "Auf lange Sicht hätte es Amazon nicht wirtschaftlich geschadet, das auszusitzen. Aber nicht sichtbare Substanzwerte wie das Markenimage leiden."

Dabei gibt es durchaus Unterschiede zwischen den Empörungsstürmen: Himmelreich zufolge lasse sich generell festhalten, "dass die Wirkung eines Shitstorms dann gravierend ist, wenn das Produkt oder der Shop austauschbar und homogen sind. Dies ist im Falle von Amazon nicht der Fall, da Angebot, Logistik und Usability nahezu einzigartig sind. In diesem Falle siegt sozusagen die 'egoistische Convenience' über 'die moralische Gesinnung' – ganz ähnlich wie bei einem Fleischskandal: Wenn sich der Sturm gelegt hat, werden die Kunden wieder zum Discounter gehen und somit den Druck verstärken, der seinerseits den Kostendruck in der gesamten Lieferkette wiederum erhöht."

Fink verweist darauf, dass manche Beschwerdewelle oder kritische Diskussion sogar durch die souveräne Reaktion der Betroffenen ins Positive gedreht wurde, etwa im Fall der ING Diba. Das gilt aber nicht für alle Fälle: "Bei wirklichem Versagen von Unternehmen oder gar Rechtsverletzungen können die Aufreger im Social Web durchaus den Beginn einer nachhaltigen Krisensituation darstellen", erklärt Fink. "Wobei in solchen Fällen die originären Impulse meist von gut recherchierten Medienberichten oder NGO-Kampagnen ausgehen und nicht 'irgendwo' im Social Web geboren wurden."

Die Gefahr liegt auch hier dann nicht im Shitstorm im Netz selbst - sondern in den Verstärker-Effekten und dem Ping-Pong mit den Medien. Nicht nur, weil unter Umständen der Startimpuls aus ihnen erfolgt. Sondern auch deshalb, weil das Geschehen im Netz Medien die Art von Aufhänges liefert, um das Thema unter anderen Aspekten weiter aufgreifen zu können. Nichts ist schließlich so alt wie die Nachricht von gestern. Aus diesem Weiterdreh kann dann weiterer Brennstoff für Diskussionen On- und Offline entstehen.

Einen direkten Schaden belegt das allerdings noch immer nicht. Wenn nun aber schon - ausgerechnet bei einem digitalen Thema - keine messbaren Werte zur Protest-Performance auf dem Tisch liegen, dann ist meist von den Auswirkungen auf das Markenimage die Rede. Bornschein spricht hier von Schäden, die nicht direkt messbar sind - Kaufentscheidungen, in denen die Marke den Kürzeren ziehe. Auch Michael Samak, CEO von Saatchi & Saatchi, warnt davor: "Markenimages sind in der Partizipations-Ökonomie viel volatiler als manche Unternehmen wahrhaben wollen. Ein richtiger Shitstorm kann dementsprechend einen großen Schaden für eine Marke bedeuten." Ob Shitstorms Auswirkungen auf das Markenimage haben, hängt für Samak vom Veränderungswillen, der transparenten Kommunikation und der Nachhaltigkeit des Handels ab. Als Beispiel nennt er Schlecker: "Das Unternehmen wollte nicht auf die öffentliche Diskussion hören. Hier bestand der Shitstorm aus den Gesprächen unverstandener Mütter und unzufriedener Mitarbeiter. Es hätte sich für das Unternehmen und die Marke gelohnt, frühzeitig offener und transparenter direkt mit den Betroffenen zu kommunizieren – so hätte sich viel Schaden abwenden lassen." Schlecker allerdings ging aufgrund harter wirtschaftlicher Faktoren pleite, nicht aufgrund von Beschwerden im Netz. Schlecker hat sich sein tiefes Loch über Jahre hinweg gegraben. Bei welcher Marke, die in den letzten Monaten im Zentrum eines Shitstorms stand, lässt sich denn ein ernster Schaden zeigen? Gibt es eine?

Natürlich sprechen manche unter der Hand von messbaren Umsatzschäden, aber niemand legt dazu Zahlen auf den Tisch. Freilich reißt sich kein Unternehmen darum, den eigenen Schaden publik zu machen. Ohne belastbares Datenmaterial wirkt die Hysterie um den Schaden von Shitstorms aber so aufgebauscht und überzogen wie manche Shitstorms selbst. Über Amazons Umgang mit Saison-Arbeitskräften wurde in den letzten Jahren immer wieder berichtet. Dem Wachstumskurs des Unternehmens in Deutschland hat das nicht geschadet.

Wer jetzt Schäden erwartet, setzt voraus, dass die Konsumenten nicht vergessen. Dass eine Marke wie Amazon, mit der ihre Nutzer im wesentlichen eine auf funktionalen Erwartungen basierende Zweckbeziehung haben, unter schlechtem Image leiden würde. Und dass dieses Leiden ein Niveau erreicht, bei dem ein privatwirtschaftlich organisiertes Unternehmen reagieren muss.

Ohne Belege ist das eine ganze Menge an Voraussetzungen.

Amazon wird keinen Schaden nehmen. Um zu beurteilen, wer bei welcher Art von Shitstorm überhaupt Schaden nehmen kann, braucht die Branche weniger Aufregung. Und mehr Daten.

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Autor: Ralph-Bernhard Pfister

Ralph Pfister ist Koordinator am Desk der W&V. Wenn er nicht gerade koordiniert, schreibt er hauptsächlich über digitales Marketing, digitale Themen und Branchen wie Telekommunikation und Unterhaltungselektronik. Sein Kaffeekonsum lässt sich nur in industriellen Mengen fassen. Für seine Bücher- und Comicbestände gilt das noch nicht ganz – aber er arbeitet dran.