Cannes Lions:
Warum die USA dominieren, obwohl sie nicht die beste Werbung machen
Warum gewinnen die Amerikaner regelmäßig die meisten Löwen in Cannes? Nicht etwa, weil sie die beste Werbung machen. Nein. Sie legen einfach mehr Wert auf die Idee als auf deren kunstvolle Umsetzung. Ein Gastbeitrag von David Griner.

Foto: Geico
Warum gewinnen die Amerikaner regelmäßig die meisten Löwen in Cannes? Nicht etwa, weil sie die beste Werbung machen. Nein, eher deshalb, weil sie beständig gute Werbung machen. Und vor allem, weil sie mehr Wert legen auf die Idee als auf deren kunstvolle Umsetzung. Ein Gastbeitrag von David Griner, Digital Managing Editor des US-Fachtitels "Adweek".
Nein, Amerika kreiert nicht die besten Werbestücke. Aber wir entwerfen, so glaube ich, beständig gute Werbung. Nirgendwo ist dieses Paradoxon sichtbarer als bei den Cannes Lions.
Ich schreibe seit mehr als einem Jahrzehnt über die US-Werbeindustrie. Und wenn ich jetzt an die vergangenen Jahre zurückdenke, stammt kaum eine meiner Lieblingsarbeiten aus Amerika. Ich denke vielmehr an Forseman & Bodenfors "Epic Split" für Volvo, an "Monty the Penguin" von Adam & Eve DDB für John Lewis, an "Parents" von Santo Buenos Aires für Coca-Cola und an "The Other Side" von Wieden + Kennedy London für Honda.
Amerika, genauer gesagt die Agentur Chiat Day, mag zwar das Meisterwerk der cineastischen Werbekunst mit Apples "1984" erfunden haben. Heute allerdings finden sich die Superlative der werbeindustriellen Kunst und Exekution weit weg von Manhattan.
Stellt sich die Frage, warum dann Amerika aber weiterhin die meisten Preise in Cannes gewinnt? Wenn Sie ein zynischer Typ sind, könnten Sie jetzt sagen, es liege daran, dass die amerikanischen Agenturen dem Festival Säcke voller Geld in den Rachen schieben – in der festen Überzeugung, dass Quantität mögliche Qualitätsfehler schon irgendwie wettmachen wird. Ich glaube aber nicht, dass das der Fall ist.
Die Tatsache, dass Amerika weiterhin eine unerreichte Zahl an Gold-Löwen und Grands Prix gewinnt, zeigt, dass unsere Kreativindustrie irgendwas richtig machen muss – und damit ist nicht das schicksalsergebene Ausgeben von Einreichgebühren gemeint. Ich glaube, die wahre Stärke der US-Werbung liegt darin, dass wir unseren Fokus fast komplett auf Ideen verschoben haben – während andere Länder uns weit überholt haben mit fantastisch schöner Kunstfertigkeit.
Was haften bleibt, ist die Idee - nicht die kunstvolle Umsetzung
Selbst die beste, großartigst produzierte Werbung wird zum Gucken schnell langweilig. Ein drei Minuten langer Werbefilm mag beim ersten Mal Spaß machen, vielleicht auch noch beim zweiten oder dritten Mal. Wir in der Branche reden vielleicht noch weiterhin darüber, ein Durchschnittskonsument allerdings macht mit seinem Alltag weiter. Was haften bleibt, ist allerdings eine richtig gute Idee. Sie erwacht zum Eigenleben: Sie wird zum Hashtag, zum Meme, zu einer Serie von Parodievideos, zur Pointe in einer TV-Show –und das alles nicht, weil eine Marke dafür zahlt, sondern weil es die Idee verdient hat.
Meine Lieblings-US-Kampagne aus dem vergangenen Jahr – die unüberspringbaren Clips für Geico – war hochwertig produziert, aber noch viel wichtiger: Sie hat die Idee von Pre-Rolls und überspringbarer Werbung einmal komplett auf den Kopf gestellt. Sie hat es geschafft, dass die Nutzer einen Spot gern gesehen haben, obwohl sie ihn eigentlich problemlos hätten wegklicken können. Er hat Agenturen dazu inspiriert, Begrenzungen als Chancen neu zu denken. Ich war freudig überrascht, dass Geico den Film-Grand-Prix in Cannes gewonnen hat, und habe der Jury gedankt, weil sie eine so starke Botschaft von kreativer Innovation damit ausgesendet hat. Grey New York hat die Fähigkeit, Themen zu setzen, schon des Öfteren gezeigt, jüngst mit einem gefakten Waffengeschäft in Manhattan oder mit "Volvo Interception": Der Autohersteller hat Fans belohnt, die während des Superbowl-Finales bei den Spots von Mitbewerbern über Volvo getweetet haben.
Eine Kampagne allerdings wird ganz besonders gut punkten in Cannes dieses Jahr, glaube ich: Die des Outdoorhändlers REI mit dem Titel #OptOutside. Die Kette kündigte an, über den berühmten US-Shoppingtag Black Friday geschlossen zu bleiben. Das war mehr als kluge PR; das hat Menschen völlig neu denken lassen.
Interessanterweise stammt einer der größten US-Werbeerfolge der vergangenen Jahre noch nicht mal von einer Agentur. Die "ALS Ice Bucket Challenge" wurde zum Globalphänomen, definierte die Bedeutung von Viralerfolg neu. In Cannes hat sie zehn goldene Löwen und einen Grand Prix gewonnen. Falls, wenn überhaupt, irgendwelche Werbekampagnen so erfolgreich wurden, weil sie mit der Populärkultur verknüpft sind, dann ließe sich Snickers mit dem Claim "Du bist nicht du, wenn du hungrig bist" nennen. Einem Claim, den BBDO London und New York entwickelt haben und dem eine Menge kluger Ideen rund um die Welt folgte.
Ansteckende Ideen, die sich weiterspinnen lassen
Um das deutlich zu sagen: Ich glaube nicht, dass Amerika die einzige Nation ist, die großartige Ideen hervorbringt oder sich grundlegend von 90-Sekunden-Spots wegbewegt. Wahrscheinlich ist es so, dass die US-Agenturen Ihnen erzählen werden, dass sie neidisch sind auf die Ideen, die aus Argentinien, Thailand oder Skandinavien kommen. Aber ich bin überzeugt davon, dass sich die Amerikaner weniger auf cineastisch angehauchte Kurzfilme konzentrieren und mehr Zeit damit verbringen, ansteckende Ideen zu entwickeln, die sich die Verbraucher zu eigen machen können, statt sie nur anzugucken, und dabei geholfen haben, den Markt im Hinblick auf Consumer-Engagement weiterzuentwickeln – und damit die Cannes Lions interessant zu halten.
Auch in diesem Jahr werden die US-Lions-Gewinner nicht die sein, die die Zuschauer zu Tränen rühren oder den größten Applaus auf der Bühne ernten. Mein Wunsch wäre es, dass man aber zumindest über viele Arbeiten zu seinen Werbekollegen sagen kann:
"Hey, diese cleveren Bastards!"
Unser Gastautor David Griner schreibt auf Twitter unter @griner. Sein Tweet mit dem Bild eines kopulierenden Paares auf dem roten Cannes-Teppich ging im vergangenen Jahr mächtig viral.
Mad respect for this couple having blatant sex on the #CannesLions red carpet just now. pic.twitter.com/JVgVYIsC8z
— David Griner (@griner) 23. Juni 2015