Da mutiert etwas

Angefangen mit Österreich am 4. Dezember 2016, wird es im kommenden Jahr eine Reihe wichtiger Wahlen in Europa geben. So sehen Umfragen Marine Le Pen in einer Spitzenposition für die Präsidentschaftswahlen bei unseren Freunden in Frankreich. Gleichsam wittert natürlich auch die AfD in Deutschland Morgenluft für die Bundestagswahl im September 2017. Beide Parteien glauben – wie die meisten anderen europäischen Rattenfänger auch – dass durch Brexit und Trump ihre Zeit endlich gekommen ist. "Wir sind Präsident", twitterte die AfD Berlin schon am Morgen nach Trumps Wahl. Und Marine Le Pen kam gar nicht schnell genug hinterher, dem neuen President-elect ihre Gefolgschaft zu versichern. Sagen wir es mal so: Da mutiert etwas. Was noch vor ein, zwei Jahren ein paar isolierte, schlechtgelaunte Wutbürger waren, verwandelt sich gerade in eine große, globale Neue Rechte. Eine Bewegung, die – man kann es gerade als Deutscher kaum fassen – plötzlich Regierungsämter übernehmen und den Lauf der Geschichte ändern könnte. Und nur um eine Grundthese vorweg zu nehmen: Ja, ich sehe diese Neue Rechte als politischen Gegner einer – meiner - liberalen Gesellschaft an.

Was diese Leute wollen, ist im besten Fall eine kleinere Welt mit mehr Grenzen und weniger Offenheit. Was sie im schlechtesten Fall wollen, mag ich mir gar nicht ausmalen. Fakt ist, dass sich unsere ach so sichere liberale Gesellschaft zumindest seitdem ich auf der Welt bin noch nie in einer so fundamentalen Krise befunden hat. Mit dem Geburtsjahr 1975 sind mir Anti-Pershing-Demos, Kalter Krieg und die fröhliche Erleichterung des Mauerfalls durchaus noch präsent. Junge Kollegen kennen hingegen gar keine andere Welt mehr als eine, in der physische Sicherheit und dauernder wirtschaftlicher Aufschwung wie durch Zauberhand da sind. Die Institutionen, die dafür sorgten, kannte man zwar irgendwie. Aber welche Bedeutung eine EU, eine Nato wirklich hatte … konnte man das überhaupt noch würdigen? Was für ein privilegiertes Leben: Der deutsche Bürger hatte sich im Normalfall nur noch um die oberen Stufen der Maslowschen Bedürfnispyramide zu kümmern. Freiheit, Frieden und Wohlergehen: alles Hygienefaktoren. Doch genau das könnte sich bald ändern.

Müssen Unternehmen unpolitisch sein?

Ebenso wie wir als Bürger dieses Landes stabile Institutionen als Garanten eines sorgenfreien Lebens für gegeben angenommen haben, hat dies auch die Wirtschaft getan. Unternehmen funktionieren, weil sie davon ausgehen, dass Menschen Handel treiben und sich vernetzen, dass sie reisen, voneinander lernen und gemeinsam an neuen Ideen arbeiten. Dass man sich ernsthaft über Frieden oder den EU-Binnenmarkt Gedanken machen müsste, dass man Angst um die Zukunft des Weltklimas oder die Sicherheit von Atomwaffen haben muss, war irgendwie nicht mehr Teil des Plans. Brexit und Trump beweisen uns gerade, dass wir genau diesem sicheren Fundament eben nicht mehr so richtig trauen können: Nato? Optional. EU? Schauen wir mal. Klimavertrag? Eher nicht.

2017 können wir dann gleich noch beobachten, ob die Serie der Neuen Rechten weitergeht. Mit im Zweifel bösem Ausgang. Denn wenn Marine Le Pen die Präsidentschaftswahlen in Frankreich gewinnt, kann dies in der Tat der finale Todesstoß für eine ohnehin schon strauchelnde EU sein. Nur noch wenige Monate und die – sicher nicht perfekte – europäische Idee, mit der ich aufgewachsen bin, könnte wieder einer Welt aus ganz vielen kleinen Staaten Platz machen. Mit all der Unsicherheit und der mangelnden wirtschaftlichen Effizienz, die damit zusammenhängt.

Doch wie darauf reagieren? Wird der Spuk nicht einfach weggehen? Kümmert sich darum nicht jemand? Holen uns nicht der Staat, Verbände und Parteien aus dieser Krise?

Gute Frage, denn die Krise ist jetzt. Und bisher sieht es nicht so aus, als ob die etablierten Institutionen ein wirklich überzeugendes Rezept gegen die Rattenfänger vorlegen können. Vielmehr scheint es, dass wir – Bürger, Agenturen, Industrieunternehmen – unsere Institutionen gegen den Ansturm der Neuen Rechten verteidigen müssen. Das geht aber nicht, ohne politisch klare Position beziehen. In einer digitalisierten Welt, in der die etablierten Institutionen nur einen Teil der politischen Willensbildung bestreiten, ist wirklich jeder gefordert, seine Zukunft mitzudesignen. Wer dies nicht tut, lässt es andere machen, wie wir gerade gesehen haben. Oder hätten Sie vor einem Jahr geglaubt, dass Großbritannien aus der EU austritt und ein obskurer Milliardär Präsident der Vereinigten Staaten wird? Eben. Ich auch nicht. Was meinen Sie, was nächstes Jahr alles passieren kann?

Vom politischen Groß-Diskurs zum Schlachtfeld Internet

Die Idee, wie politische Willensbildung funktioniert, hat sich gerade in den letzten Jahren radikal verändert. Dass Parteien als politische Monopolisten über große Medien Wähler von ihren Argumenten in einem freien Meinungswettbewerb überzeugen, wirkt mittlerweile fast hoffnungslos veraltet. Kein Wunder.

Gerade konnte die Welt zuschauen, wie sehr Wahlkampf fast schon zu einem Internet-Schlachtfeld vieler kleiner und großer Akteure geworden ist. Micro-Meinungen, Content, Bot-Netzwerke, Fake-News: die von Obama kultivierte Idee des themengeleiteten Social-Media-Wahlkampfs ist zu einem wütenden, intransparenten, manipulativen Kampf um digitale Trending Topics degeneriert. Ob es sich dabei um frei erfundenen Nachrichten, um Halbwahrheiten oder echte News handelt, ist ebenso sekundär wie die Frage, ob dieser Content von Menschen oder von Bots geteilt wird.

Als Regel gilt: Was digital im Umlauf ist, wird wahrgenommen und geglaubt. Ein ideales Spielfeld für neurechte Publikationen aus den Schatten des Netzes, teilweise mit Millionen von Fans und Followern, die fast unbemerkt das Spiel zu ihren Gunsten verändert haben – ein Spiel, das gerade für Vertreter der liberalen Mitte extrem schwierig zu führen ist: Demokraten sind nämlich üblicherweise keine großen Freunde von gezielter Massenmanipulation. Zu sehr glaubt man eben meist doch noch an einen politischen Diskurs, an gute Argumente und ein gesundes Menschenbild. Mit Halbwahrheiten oder waschechten Lügen arbeiten? Das passt nicht zu Luke Skywalker. Das passt zu Darth Vader.

Was diesen Prozess der Willensbildung so anders als bisher macht, ist zweierlei: Senden kann grundsätzlich jeder. Empfangen aber nicht. "Echo-Chambers" bilden die unsichtbaren Begrenzungen des Diskurses. Ohne dass wir es merken, findet der politische Austausch nur noch zwischen uns und denen statt, die ohnehin unserer Meinung sind. Für die "andere Seite" gilt das natürlich auch. So bleibt die Informationsaufnahme vollkommen einseitig, neue Perspektiven existieren nicht und Gruppen schaukeln sich gegenseitig hoch. Die Idee eines inhaltlichen Gesprächs von Freunden, die politisch vielleicht nicht einer Meinung sind, die sich aber respektieren und Argumente austauschen, wird zur romantischen Erinnerung. Ohne dass wir es gemerkt haben, gibt es nur noch zwei unversöhnliche Lager. Und eines davon hat sich in den letzten Monaten durch diesen Prozess auf globaler Ebene zu einer echten Gefahr für die offene vernetzte Gesellschaft entwickelt.

Wirtschaft und Agenturen: Kämpft für die Zivilgesellschaft

Bitte lesen Sie die folgenden Zeilen explizit als Wunsch und Empfehlung eines Privatmenschen, der für diesen Artikel zufällig in einer Agentur arbeitet. Ich würde diese Empfehlung auch als Ingenieur bei einem Autobauer geben: Ich wünsche mir, dass Wirtschaft und Agenturen explizit Stellung gegen die Neue Rechte beziehen und schnell aktiv ins Handeln kommen. Der globale Aufstieg der Neuen Rechten ist in vielerlei Hinsicht eine große Gefahr für eine sichere Welt, in der wir und kommende Generationen in Frieden und Wohlstand zusammenleben können. Dass wir uns als Privatleute dagegen stemmen, ist eine Sache. Hier schreibe ich allerdings in einem professionellen Kontext und möchte Agenturen wie Industrieunternehmen daran erinnern, dass eben auch sie eine Verantwortung für das Gemeinwohl tragen, von dem sie profitieren. Kurz: Unternehmen können von nun an zwischen einer Welt wählen wie sie bisher war – oder einer neuen.

Zur Wahl stehen zwei politische Groß-Strategien für unsere Branche:

  • Passiv: Hoffe ich, dass gerade die Media-Welt so vorausschauend und schlau ist, Obskuranten-Plattformen wie z.B. Breitbart (das rechte Netzwerk hinter Trump, das jetzt nach Europa expandiert) einer sehr genauen Überprüfung zu unterziehen. Hier sollte es eine Initiative geben, die ggf. Medien blacklistet, wenn diese systematische Falschmeldungen verbreiten, um so der Neuen Rechten auf Angst basierende Argumente zur Wahlbeeinflussung zu liefern. Ich hoffe hier sehr auf eine verantwortungsvolle Branche, die mit gutem Beispiel vorangeht.
  • Aktiv: Sollten Unternehmen und Agenturen die These vom "Wir können unpolitisch sein", hinter sich lassen. Es geht darum, sich klar für eine und damit auch klar gegen eine andere politische Zukunft zu entscheiden. Möglichkeiten dies zu tun, gibt es viele: Das kann in Statements passieren, die die liberalen Kräfte rückversichern und stützen. Das kann z.B. aber auch in inhaltlichen oder budgetären Zuwendungen gegenüber all den zivilgesellschaftlichen Akteuren passieren, die global wie auch lokal den Kampf gegen die Neue Rechte und ihre Folgen führen. Allzu oft im lokalen Rahmen, häufig unterfinanziert und dennoch oft mit viel Leidenschaft: Vereine, Vertreter der offenen Gesellschaft, Umwelt- und Klimaschützer, Behinderten- und LGBT-Organisationen, soziale Körperschaften, Flüchtlingsorganisationen, Einzelakteure – eben all die, die täglich vor Ort den Beweis erbringen, dass unsere Welt ein guter und offener Ort sein kann.

Unsere Welt? Ja, die hat dieses Jahr schon zwei große politische Schocks erleben müssen und ich habe große Angst vor dem nächsten. Das ist keine Übung mehr. Es geht um nichts geringeres als die Verteidigung unserer Zivilgesellschaft: in Deutschland und in Zusammenarbeit mit unseren Freunden in Europa. Diesen Prozess werden die althergebrachten Institutionen keinesfalls alleine bewältigen können. Dazu haben sich die Regeln des Spiels, die Regeln des öffentlichen politischen Raums, zu sehr verschoben. Im privaten Leben und auch als Wirtschaftseinheiten müssen wir uns fragen, ob wir unsere Zukunft von der Mitte der Gesellschaft oder von ihren Rändern bestimmen lassen wollen.

Ich hoffe, dass Ihnen diese Entscheidung leicht fällt. Und wenn nicht, dann lassen Sie uns gerne streiten. Eines sollten wir nicht tun: So lange warten, bis wir nächstes Jahr wieder mit schreckgeweiteten Augen vor den Ergebnissen zu großer Passivität stehen.

Es liegt an uns, unsere Zukunft zu entwerfen und diese zu vermitteln - gerade in der Kommunikationsbranche.

Der Autor: Gerald Hensel ist Executive Strategy Director bei Scholz & Friends in Berlin. Er ist studierter Politologe und hat ein Buch über Rüstungskontrollverhandlungen mit Nordkorea herausgegeben. Hensel bloggt auf davaidavai.com über Politik und (digitales) Marketing.

Hier findet Sie noch ein sehr interessantes Interview mit dem ehemaligen Wahlkampfberater der SPD, Frank Stauss.


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Autor: W&V Redaktion

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