Zunächst scheint Content die lang­ersehnte Antwort auf viele angesammelte Probleme der Marketing-Kommunikation zu sein: Was will man mehr, als wenn sich in Zeiten zunehmender Komplexität von Medienstrukturen, Devices und Zielgruppen gerade Letztere freiwillig und aktiv mit kommerziellen Botschaften auseinandersetzen, diese sogar aktiv suchen?

Digitalisierung als Wegbereiter

Selbst das Phänomen der steigenden Ab­lehnung von Werbung mittels technischer ­Gadgets wie Adblocker wäre damit ausgehebelt: Da gibt es nichts mehr zu blocken, wenn Konsumenten nach Content gieren. Die Powerpoint-Charts vieler Kongresse des letzten Jahrzehnts werden endlich wahr: Die Kommunikation ändert ihre Richtung! Anstatt dass Marken zum Verbraucher kommunizieren, sucht dieser die für ihn relevanten Inhalte selber – von Push zu Pull.

Wegbereiter dieser Entwicklung war die Digitalisierung. Infrastrukturkosten, die Markteintrittsbarriere für Medienunternehmen schlechthin, verlieren ihre Bedeutung, wenn jeder mit der Technologie, die ein normales Smartphone zur Verfügung stellt, Weltruhm erlangen kann.

Kann man sich heute noch vorstellen, dass ein Chef eines großen TV-Konzerns auf die These "Content is King" antwortet: "But Distribution is King Kong"? So wie es im Jahr 2006 Guillaume de Posch, seinerzeit Chef von ProSiebenSat.1, auf der Bühne der MIPTV in Cannes tat.

Der technische Fortschritt ermöglichte nicht nur den Daaruums und LeFloids mehr als Warhols 15 Minuten Ruhm, er versprach auch allen Marken, selbst zu Medien werden zu können. Warum den Burdas und Bauers, den RTLs und Sat.1s immer mehr Geld für immer kleinere Zielgruppen geben, wenn man selbst Inhalte generieren und ­publizieren kann? Warum nicht mit Stars wie Clive Owen und Regisseuren wie Guy Ritchie eigene Spielfilme fürs Internet drehen, statt TV-Spots rund um Inhalte zu platzieren, deren Production-Value nicht an den des eigenen 30-Sekünders heranreicht?

Angebot eilt der Nachfrage davon

So dient die spektakuläre Kurzfilmreihe "The Hire" auf Bmwfilms.com seit 2002 als Musterbeispiel für Branded Entertainment. ­

Allerdings fällt auf, dass das so ziemlich der einzige Case für die erfolgreiche Verschmelzung von Werbung und Unterhaltung geblieben ist, so wie heute das Nike-Fuelband noch immer als einsames Beispiel für Markenkommunikation als Produkt herhalten muss. Als dann die Möglichkeiten des Internets, des E-Commerce und der sozialen Medien die Marketingabteilungen förmlich fluteten, setzte die zweite Welle des Branded Entertainments ein: Content-Marketing.

Marken als Medien und Inhalte statt Werbung – so lautet die Zauberformel dieser Zeit. Und so verwundert es nicht, dass schon vor drei Jahren fast die Hälfte der deutschen Marketingentscheider ihre Marke als Medienhaus verstand und heute praktisch alle der These zustimmen, dass inhaltsgeprägte Kommunikation wichtiger wird.

Während also immer mehr Marken am Aufbau eigener Content-Einheiten arbeiten, intern, extern oder als Zwischenlösung, stoßen weiterentwickelte Märkte auf ein Phänomen, das mit Content-Clash umschrieben wird. Die exponentiell zunehmende Quantität der Inhalte von Medien, von Usern und nun eben auch von Marken trifft auf ein limi­tiertes Zeitbudget bei den angepeilten Zielgruppen.

Selbst Big Data und der ausgeklügeltste­ Algorithmus können an der Tatsache nichts ändern, dass immerhin elf Stunden durchschnittlicher Medienkonsum von Endkunden nicht ausreichen, um all die Markenposts und -filme zu konsumieren.

Das Angebot eilt der Nachfrage davon. Und dann greift immer noch das gleiche Gesetz: Dann fällt der Preis. Aber da der Preis ja schon null ist, nämlich Kunden für Markeninhalte nichts bezahlen, wird er nun negativ. Marken bezahlen also wieder dafür, dass ihr Content gesehen wird. Entweder den Kunden, beispielsweise mittels Gewinnspielen, oder direkt an Facebook und Google.­

So erschraken viele Marketeers, als Face­book Ende 2013 die Reichweiten der Marken zu ihren Zielgruppen abschnitt – mit der Begründung, diese Inhalte stünden eben in Konkurrenz zu allen Inhalten. Als Ausweg bot die Plattform ausgerechnet an, was man ja eigentlich umgehen wollte: Werbung!

Natürlich wissen die Facebook-Entscheider, was sie tun: Ein durchschnittlicher Nutzer hat bei jedem Besuch seiner Time­line etwa 1500 neue Content-Pieces zur Auswahl. Das kann nicht alles gesehen werden, und so verbleibt über die Hälfte aller Contents bei weniger als zwei Interaktionen.

Der irreführende Dreiklang

Daraus folgt, dass plötzlich jene Inhalte beworben werden müssen, die erstellt wurden, um Werbung zu ersetzen. Und in der Tat tun dies heute 75 Prozent aller Marken, die aktiv Social Media einsetzen. Hier frisst die Content-Revolution ihre Kinder. Die bisher rein quantitative Betrachtung lässt natürlich die Frage offen, welche Inhalte denn funktionieren und welche Inhalte unbeachtet bleiben. Die qualitative Kategorisierung von Content wird in vielen Unternehmen anhand des Branchenstandards von Google vorgenommen: des Hero-Hub-Help-Modells.

Doch hier beginnt die eigentliche Problematik. Die schönen kurzen Alliterationen mit H suggerieren einen Dreiklang, der aber in der Realität nicht als solcher funktioniert, nein, sogar irreführend ist.

Allgemeine Überforderung

Eine kleine Exkursion: Hero (act like an advertiser) und Help (act like a service provider) geben qualitative Hinweise. Hero-Content sind herausragende Inhalte, kreative Leuchttürme, die Gespräche anstoßen. Sie werden gern geteilt und verbreiten sich in aller Regel von allein. Oft zitierte Beispiele sind der Edeka-Weihnachtsfilm "Heimkommen" mit dem einsamen Opa oder der Volvo-Trucks-Film "Epic Split" mit Jean-Claude Van Damme.

Die Reihe lässt sich problemlos fortsetzen: "Sketches" von Dove, "The Force" von VW oder "Lost Dog" von Budweiser. Noch extremere Beispiele liefern Go Pro oder Lego, die es ja sogar mit Spielfilmlänge ins Kino geschafft haben. Oder Oreo, die mit dem Tweet "You can still dunk in the dark" zum Blackout beim Superbowl 2013 gezeigt haben, dass man einen Kontext gut nutzen kann, wenn man darauf vorbereitet ist.

Help-Content wiederum ist als Service zu verstehen. Im besten Sinne ist ein Google-­Ad schon die Antwort auf eine Frage und leitet den Suchenden nicht nur auf eine Seite in einer komplexen Informationsarchi­tektur. Bestenfalls ist Help-Content dann direkt mit Unternehmensbereichen wie ­Customer-Care, Service und Callcentern verbunden und kann Informationen zu ­Verfügbarkeiten, Anwendungen und Pro­blemen liefern.

Aber auch eher kommunikativ ausgerichtete Plattformen haben hier ihre Berechtigung. Denn die Analyse der meistgenutzten Inhalte zeigt, dass konkrete Anwendungshilfen sich extrem großer Beliebtheit erfreuen.

Der Crazy Russian Hacker liefert mehreren Millionen Haushalten in aller Welt praktische Tipps, und die meisten weiblichen Teenager lassen sich von Peers erklären, wie sie Smokey Eyes hinkriegen. Auch einige Marken liefern hier gute Beispiele, wie der Lego Creator oder die Bob-Community von Bosch, in der Profianwender konkrete Hilfe im Beruf erfahren.

Doch obwohl sich für Hero und Help gute Beispiele finden lassen und beide Content-Arten sehr gut funktionieren, setzen die meisten Unternehmen nun auf Hub-Content und folgen der Google-Aufforderung "act like a publisher"“. Womit wir wieder bei der Logik sind, bei der sich Marken als Medien verstehen und wie ein Medienhaus agieren wollen.

Dies scheint auch einfacher umsetzbar und leichter berechenbar, als mit einem Stück Hero-Content einen Hit zu landen. Die Edeka-Virals der letzten Jahre "Kiffer", "Supergeil", "Kassensymphonie", "How-much-is-the-fish", "Dorf Drift" und "Heimkommen" ­erscheinen wie eine Serie von Zufallstreffern. Und auch Help-Content fühlt sich aufwendiger an, da immer wieder neue, einzelne, individualisierte Inhalte hergestellt werden und zudem noch Datenintegration und Prozessanpassungen erfolgen müssen.

Denn nur wenn diese Services wirklich singularisiert sind, erlebt der Konsument einen Mehrwert. Das ist in der Regel nur mit Datenstrategien machbar und überfordert manche Marketingabteilung. Und natürlich: manche Agenturen.

Neue Schläuche, alter Wein

Also lieber Hub-Content – da fühlt man sich sicherer. Man macht sich vor, dass der meiste Content ja sowieso schon da sei, er nur noch sorgfältig kuratiert werden müsse, dann noch ein bisschen um diesen und jenen redaktionellen Inhalt ergänzt wird, und fertig ist das Mengengerüst, das alte Medialogiken bedient: Reichweite und ­Effizienz.

Die bekannte Frage wird neu gestellt: Zu welchen Kosten kann ich mit wie viel Content wie viele Leute erreichen? Alter Wein in neuen Schläuchen, was auch erklärt, warum plötzlich so viele alte Player in dieser neuen Welt auftauchen.

So wurden aus Redaktionen, aus Corporate-Publishern, aus PR-Agenturen, aus mancher Werbeagentur und – noch erstaunlicher – aus einigen Mediaagenturen plötzlich Content-Creatives, Content-Factories oder Content-Companies. Allerdings sind die Namen für diese neuen Schläuche meist kreativer als die Inhalte, die dort produziert werden.

Skepsis ist angebracht

So liest man bisher weit mehr darüber, wer sich gerade durch welche Neuorganisation, Fusion oder Akquisition zum nächsten ­erfahrensten Content-Anbieter Deutschlands ernennt, als über herausragende, weil nachweislich funktionierende Cases ihrer ­Arbeit. Und genau an dieser Stelle sieht es schwierig aus, weil die Logik von Angebot und Nachfrage brutal zuschlägt.

Man muss bei Zauberformeln eben skeptisch bleiben. Meist funktionieren sie nicht für jeden Einzelnen und noch weniger, wenn alle sie anwenden. Denn wenn alle die gleiche Spur wählen, kann keiner mehr überholen. Nehmen wir mal beispielhaft die groß angekündigten Content-Plattformen der dominierenden Elektronik-Handelshäuser. Obschon deren Inhalte absolut massentauglich sein müssten – schließlich kann man von "Game of Thrones" bis zu den neuesten Apple-Gadgets über wirklich zugkräftige Themen sprechen –, deuten alle ersichtlichen KPIs von Likes und Shares auf eine schwache Akzeptanz dieser Marken als Medienhäuser hin.

Aber darf das verwundern? Eigentlich nicht. Die gebotenen Inhalte sind weder wirklich unterhaltend, noch bieten sie ­irgendeinen ernsthaften Mehrwert. Das ist typisch für die meisten Hubs. Diese Inhalte verharren in der Mitte. Sie repräsentieren ein Mittelmaß, das schon vorher entweder als journalistische Füllmasse in den letzten Heftseiten, als Produktmanagertexte auf Webseiten oder eben als nicht tragfähige Konzepte von TV-Producern in deren Schubladen vergammelte. Wieso sollte der Kunde sein wertvollstes Gut, seine Zeit, dafür hergeben?

Jedenfalls lassen sich keine relevanten Durchbrüche durch Googles Vermarktungslogik erkennen. Und das darf niemanden wundern, denn die damaligen Einnahmen der Verleger und Sender für Reich­weiten gehen nun direkt an Google und Facebook.

Vielleicht braucht es aber genau hier ein Umdenken. Vielleicht sind Marken eben doch keine Medien (wie übrigens Medien auch immer weniger Marken sind). Vielleicht können nur ganz wenige, wie große Limonadenhersteller, eigene Plattformen etablieren. Vielleicht zählen Kreativität und Relevanz in der digitalen Welt mehr als Reichweite und Kontakt. Und vielleicht ist weniger mehr.
Reduktion als Mittel zum Zweck

Weniger Content. Detox für Content. ­Decontenting. Die Betreiber mächtiger Websites und insbesondere große E-Commerce-Anbieter beschäftigen sich längst mit diesem Phänomen. Sie erkennen, dass zu viele Inhalte eher von der Auseinandersetzung mit ihrem Angebot und vom Kauf abhalten. Und sie erkennen, dass der Erfolgsfaktor der mobilen digitalen Welt in der Reduktion liegt.

Die wirklich guten Apps sind einfach strukturiert, haben reduzierte Funktionen. Sie dienen einem Publikum, das sehr oft, aber immer nur sehr kurz ein Angebot nutzt. Einem Publikum, das in ganz bestimmten Situationen eine ganz bestimmte Unterstützung sucht. Oder eben gern gut unterhalten wird. Aber das den Ersatz von Werbe-Penetration durch Content-Pene­tration ablehnt.

Und so ist Content-Marketing eben doch nicht der Heilige Gral. Und die Einordnung Hero, Hub und Help nur bedingt hilfreich. Moderne Markenkommunikation muss unterstützen oder unterhalten. Oder sie geht im Ozean des irrelevanten Contents einfach unter.

Der Text wurde von Thomas Strerath und Christoph Korittke geschrieben. Er erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe von W&V.