
Thomas Koch über Datenschrott:
"Ein Wunder, dass die Werbekunden nicht schreiend davonlaufen"
Unsere Branche bildet sich viel auf die präzise Messung von Mediennutzung ein. In Wahrheit stammen wesentliche Berechnungsgrundlagen noch aus der Adenauer-Zeit. W&V-Blogger Thomas Koch bringt es in einem glänzenden Mr.-Media-Rant auf den Punkt: "Die Daten, mit deren Hilfe Mediaagenturen die Entscheidung über Wohl und Wehe der Werbeträger treffen sind allesamt Schrott".

Foto: Markus Sommer
Uns Medialeuten sagt man nach, wir könnten gut mit Zahlen umgehen. Das ist schön. Denn sonst haben wir wenig zum Gelingen der Werbung beizutragen: Wir können keine Marketingstrategien entwickeln (dafür bewundere ich manche Marketeers), wir können keine Kreativkonzepte ausdenken (darum beneide ich viele Kreative), wir können keine Texte schreiben (eine wundervolle und seltene Gabe) und wir können nicht malen (die meisten sollten es besser sein lassen).
Dafür haben wir unsere Zahlen. Man nennt uns deshalb liebevoll die "number crunchers". Wissen Sie was? Ich mag diese Zahlen nicht. Sie vernebeln allzu oft die Wirklichkeit, sie versperren meist sogar den Zugang zu den Menschen, die wir Zielgruppe nennen. Zugegeben, es gibt immer wieder - wenn auch seltene - Fälle, da entlocken wir ihnen ein Geheimnis über Märkte, Medien und Zielgruppen. Das sind unsere Sternstunden. Nur in solchen Sternstunden liebe ich diese Zahlen.
Meist jedoch missbrauchen wir sie. Für Tabellen, die niemand versteht - und die die wenigsten Kunden überhaupt lesen können. Damit umgeben sich die Medialeute mit einem Nimbus des Geheimnisvollen. Sie beherrschen ein Metier, das sich in unverständlichen Zahlen und Begriffen ausdrückt. Darin sind sie unbestritten und wahre Meister.
Wir benutzen diese Zahlen, um Medien und Werbeträger auszuwählen. Wir berechnen damit, dass Radio wirtschaftlicher ist als Fernsehen (wie aufregend!) und dass Print teurer ist als Online (Sapperlot!). Ganz verstanden habe ich das nie, weil ich immer dachte, dass man Medien nach ihren Fähigkeiten und der ihnen zugewiesenen Rolle im Kommunikations-Mix auswählt. Das aber ist schwieriger zu argumentieren als ein TKP.
Richtig in Fahrt kommen die Mediafuzzis erst dann, wenn es an die Werbeträgerauswahl geht. Wer sich im Zeitschriftenmarkt und seinen Zielgruppen auskennt, braucht dafür eigentlich keine Rangreihen. Das ginge einem Kenner der Materie locker von der Hand. Einfacher geht es aber mit Zahlen. Dass sie keine Auskünfte über die tatsächlichen, meist redaktionellen Unterschiede geben, stört niemand. Auch nicht, dass sie unterschiedliche Funktionen für ihre Leser besitzen. Egal. Das sind ja nur qualitative Unterschiede, die sich nicht in Zahlen ausdrücken lassen. Egal auch, dass diese, sagen wir mal vorsichtig, fragwürdige Form der Selektion (ich habe in jüngster Zeit Dilettantismus gesehen, den Sie mir nicht glauben würden) 60 Jahre alt ist - und dass man eigentlich erwarten dürfte, dass sich die Mediaplanung weiterentwickelt hätte. Egal.
Wenn die Zahlen verrückt spielen
Verwirrend wird es dann, wenn die verschiedenen Währungen, mit denen wir den Erfolg von Werbeträgern messen, völlig diametral auseinanderlaufen. So geschehen zu Beginn des Jahres mit den IVW-Auflagen und den MA-Reichweiten. Während die jüngste MA-Pressemedien 2014 I die Reichweiten der meisten Zeitschriften steigen lässt, sinken gleichzeitig deren Auflagen. Als Paradebeispiel geben die Kollegen von Meedia "Computer Bild Spiele" an, deren Auflage in den vergangenen Jahren um 63 Prozent zurückging, deren Leserschaft jedoch laut MA wächst.
Da ist man doch geneigt, eher den Auflagenzahlen zu glauben und die Leserdaten der MA in die Tonne zu hauen. Und die GfK-Zahlen der TV-Sender gleich hinterher. Sie sind weder repräsentativ, noch in der Lage die Mehrzahl der Sendeplätze (die sich übrigens außerhalb der Prime Time und auf kleinen Sendern befinden) vernünftig abzubilden. Die "FAZ" spricht sogar von der großen "Quoten-Lüge" .
Da das aber alles sowieso egal ist, überlässt man es gleich einem Programm namens TV-Optimierung, das die "werberelevante" Zielgruppe für alle Marken auswertet - und Mercedes und Kik damit in die gleichen Werbeblöcke steckt. Oder die Commerzbank und "Jeff, ich heiße Jeff". Mediaselektion Anno 2014. Es ist mir ein Rätsel, dass die Werbekunden nicht schreiend davonlaufen.
Gottseidank ist bei Online alles besser. Denn einzig Online-Werbung ist messbar. Wir beobachten jede Spur, die die User im Netz hinterlassen und können damit präzise sagen, welche Websites sich für die Ansprache jeder individuellen Zielgruppe eignen. Möchte man denken. Doch leider ist das Gegenteil der Fall.
Online kann es auch nicht besser
Bei der Bewertung von Websites werden zwei verschiedene Quellen herangezogen. Einmal die Visits nach IVW, andererseits die Unique User nach Agof. Dumm nur, wenn sich beide widersprechen. Focus Online meldet stolz, man habe Spiegel Online überholt. Nach Agof, wohlgemerkt. In der IVW liegt der Spiegel meilenweit vor Focus (225,4 Millionen vs. 107,7 Millionen Visits). Nicht anders verhält es sich bei der Branchenpresse: Neulich setzte sich "Horizont" bei der Agof vor W&V, obwohl die Frankfurter Kollegen laut IVW Monat für Monat weit abgeschlagen sind.
Nun sind Unique User etwas anderes als Visits. Die Visits werden durch IVW immerhin gezählt, während die Unique User teils durch Umfragen ermittelt werden müssen. Entschuldigen Sie meine Naivität, aber in meinen Augen sind die Agof-Zahlen damit die weichere Währung - und dürften bei der Bewertung von Websites keine Priorität besitzen.
Unsere Mediadaten sind allesamt Schrott
Unsere Forscher sind so stolz auf die Präzision, mit der wir in Deutschland die Mediennutzung messen. Man kann es aber auch umgekehrt sehen: Die Daten, mit deren Hilfe Mediaagenturen die Entscheidung über Wohl und Wehe der Werbeträger treffen - und 15 Milliarden Werbeeuro steuern - sind allesamt Schrott. Die Art und Weise wie wir Leserdaten erheben, reicht zurück ins Jahr 1954, bis auf methodische Veränderungen praktisch unverändert seit 60 Jahren. (Was ist eigentlich aus den RFID-Daten geworden?) Die Entwicklung des GfK-Meter-Systems zur Messung der TV-Quoten geht zurück auf das Jahr 1963 und blickt damit bereits auf eine über 50-jährige Geschichte. (Funktioniert die Radio-Watch nicht auch bei TV?) Und die Agof, inzwischen auch schon zwölf Jahre alt, liefert beim angeblich messbarsten aller Medien mehr Verwirrung als Transparenz. (What would Google do?) Alle Welt redet zwar von Big Data, aber in der Erhebung der Nutzung erweist es sich als zahnloser Tiger.
Die Zahlengetriebenheit der Medialeute ist verständlich, aber es gibt gute Gründe, an der Glaubwürdigkeit dieser Zahlen zu zweifeln. Es ist wohl nach 50 bis 60 Jahren an der Zeit, die Mediennutzungsforschung in diesem Land zu revolutionieren. Die Onliner wären übrigens schlau, wenn sie den Anfang machten. Vielleicht aber haben die Werbekunden doch recht mit ihrer Forderung nach einem Medienvergleich auf Wirkungsebene, anstelle dieser albernen Kontaktchancen. Aber da hören alle Marktteilnehmer geflissentlich weg. Das dürfte sich noch als Bumerang erweisen.
Thomas Koch, Agenturgründer, Ex-Starcom-Manager, Wirtschaftswoche-Kolumnist, Herausgeber von "Clap" und Media-Persönlichkeit des Jahres, bloggt seit 2013 für W&V. Er ist "Mr. Media".