Wirecard-Vorstandschef Markus Braun und seine Kollegen gingen auf Tauchstation. Am Nachmittag sagte das Unternehmen auch die mündliche Präsentation der Bilanz für Medien und Analysten ab. Die Deutsche Börse in Frankfurt prüft Sanktionen gegen wegen der nicht fristgerechten Lieferung der Jahresbilanz.

Wirecard sehe sich als mögliches Opfer eines "gigantischen Betrugs", sagte ein Firmensprecher. Der Konzern will Anzeige gegen Unbekannt erstatten. "Alle Beteiligten sind um schnellstmögliche Aufklärung bemüht", erklärte Braun schriftlich. Ihm zufolge ist unklar, "ob betrügerische Vorgänge zum Nachteil von Wirecard vorliegen". Die Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young gehen davon aus, dass "zu Täuschungszwecken" falsche Saldenbestätigungen für die Treuhandkonten ausgestellt wurden, und zwar von einem ungenannten Treuhänder oder zwei ebenfalls ungenannten asiatischen Banken.

Die Sparkassen-Fondsgesellschaft Deka forderte erneut den Rücktritt von Wirecard-Chef Braun. "Wir sind fassungslos", sagte Ingo Speich, Leiter des Bereichs für gute Unternehmensführung bei der Deka. "Auch hier hat sich wieder gezeigt, dass den Ankündigungen von Wirecard keine Taten folgen. Ein personeller Neuanfang ist dringender denn je." Er hoffe, dass sich der erneute Vertrauensentzug am Kapitalmarkt nicht doch noch auf das laufende Geschäft von Wirecard auswirke.

Die der Deutschen Bank gehörende Fondsgesellschaft DWS drohte mit einer Klage: "In diesem Zusammenhang analysieren wir die Faktenlage und prüfen die Einleitung rechtlicher Schritte", sagte ein Sprecher. Eigentlich wollte der Zahlungsabwickler aus Aschheim bei München am Vormittag die mehrfach verschobene Veröffentlichung des Jahresabschlusses nachholen.

Nachdem der Konzern die Abschlüsse der Jahre 2016 bis 2018 bereits einer Sonderprüfung durch das Prüfunternehmen KPMG unterzogen hatte, schauten sich die regulären Prüfer von Ernst & Young die 2019er Zahlen besonders gründlich an. Doch für das Testat, das sie dem Abschluss vor der Veröffentlichung hätten geben müssen, fehlten entscheidende Belege. Bei den zwei ungenannten asiatischen Banken, die die Treuhandkonten seit 2019 führen, konnten die betreffenden Kontonummern "nicht zugeordnet werden", wie das Unternehmen formulierte. Laut Wirecard-Chef Braun haben die EY-Prüfer früher erteilte Bestätigungen der Banken nicht mehr anerkannt. "Alle Beteiligten sind um schnellstmögliche Aufklärung bemüht", versicherte der unter Druck stehende Manager, gegen den die Münchner Staatsanwaltschaft in anderem Zusammenhang wegen möglicher Falschinformation von Anlegern in zwei Börsen-Pflichtmitteilungen ermittelt.

Wirecard ist seit einer Artikelserie mit Vorwürfen in der britischen "Financial Times" Anfang 2019 in Bedrängnis. Mit der KPMG-Sonderprüfung früherer Bilanzen hatte der Vorstand den angekratzten Ruf des Konzerns eigentlich wieder aufpolieren wollen. Doch dies setzte dann die Kette in Gang, die mit der Meldung vom Donnerstag einen vorläufigen Höhepunkt erreichte. Bafin und Münchner Staatsanwaltschaft sind bereits in doppelter Hinsicht mit Wirecard beschäftigt. Die Finanzaufsicht erstattete wegen möglicherweise irreführender Ad-hoc-Mitteilungen des Strafanzeige, die Strafverfolger ermitteln seither gegen Braun und seine Kollegen im Wirecard-Vorstand.

Gleichzeitig wird ermittelt, ob Spekulanten Wirecard mit illegalen Kursmanipulationen schädigten. Nun kündigten beide Behörden an, ihre Untersuchungen auszuweiten. "Selbstverständlich fließt der aktuelle Sachverhalt in unsere noch laufende Marktmanipulationsuntersuchung ein", sagte eine Bafin-Sprecherin. Und die Münchner Staatsanwaltschaft erklärte, die Behörde stehe im Kontakt mit dem Unternehmen und prüfe den Vorgang.

Die Anlegergemeinschaft SdK wiederum überlegt ebenso wie die Fondsgesellschaft DWS eine Schadenersatz-Sammelklage gegen Wirecard. Der SdK-Vorstand hat bereits eine Anwaltskanzlei eingeschaltet - die prüft, ob auch die Wirtschaftsprüfer von EY zivilrechtlich belangt werden könnten. "Das ist ein rabenschwarzer Tag", sagte Marc Tüngler, Hauptgeschäftsführer der Anlegergemeinschaft DSW. "Wir sind in der Situation, dass Wirecard selbst nicht mehr für Aufklärung und Vertrauen sorgen kann." Jetzt sei der Aufsichtsrat gefordert: "Was bedeutet das personell, was bedeutet das für die Aufstellung des Konzerns?"

Im Raum steht nun ein vorzeitiger Rückzug oder Rauswurf von Vorstandschef und Großaktionär Braun. Die Amtszeit des österreichischen Managers endet am 31. Dezember. Manche Anleger zumindest können ein bisschen aufatmen. Die DWS hat ihren Anteil im Lauf der vergangenen Wochen ebenso verkleinert wie die zu den Genossenschaftsbanken gehörende Union Investment, die im März direkt und über Finanzinstrumente noch über vier Prozent der Wirecard-Anteile gehalten hatte. "Wir haben unseren Aktienanteil an Wirecard in den vergangenen Wochen drastisch reduziert", sagte Fondsmanager Andreas Mark. Größter Verlierer war auch in finanzieller Hinsicht Braun: Er besitzt als größter Anteilseigner sieben Prozent der gut 123 Millionen Wirecard-Aktien. Der Absturz seiner Papiere um über 60 Prozent bedeutete für ihn einen rechnerischen Wertverlust von über einer halben Milliarde Euro. (dpa)