Die Umstrukturierung
CEO Mike Sheldon wirft alles über den Haufen. Die digitale Zukunft verlangt es. Wo früher die CDs und ADs in der einen, die Beratung in der anderen Ecke des Großraumbüros und die Techniker in ihrem eigenen Kabuff hausten und sich höchstens zur Besprechung konkreter Aufträge trafen, strukturiert Sheldon nach Teams. Das ganze Großraumbüro, noch nicht von Planen verhülltes Zentrum der Agentur im Erdgeschoss, wird schon bald alle beherbergen, die auf dem VW-Etat arbeiten. Alle: Deutsch hat nicht nur die Digitalabteilung und Softwareentwicklung, sondern auch Design-, Media- und Event-Abteilung selbst im Haus, die betrifft das genauso.

Die normalen Teams werden aber kleiner sein, Mike Sheldon denkt an Gruppen von fünf oder sieben Leuten. "Es geht einfach darum", sagt der ruhige Amerikaner mit der dunklen Stimme, "dass man in der digitalen Welt nicht darauf wartet, dass die Kreativen mit Ideen ankommen. Unsere Technikaffinen haben tolle Ideen, Berater haben tolle Ideen und Planner haben tolle Ideen - und wir brauchen mehr Ideen als die, die wir bekommen können, wenn wir das allein in die Hände eines Kreativteams mit Texter und AD legen." Alle, davon geht der Chef des Los-Angeles-Büros aus, inspirieren sich gegenseitig.

Die liebe Familie
Damit das klappt und der kreative Anspruch stimmt, ist die Auswahl neuer Mitarbeiter enorm streng: Mike Sheldon und seine Partner erteilen Profilneurotikern und anderen schlecht sozialisierten Egomanen klare Absagen: "No asshole policy" nennt Sheldon das. "Das Leben ist so kurz, ich mag nicht schreien und brüllen und mit Leuten arbeiten, die arrogant sind und durchdrehen." Natürlich gebe es Kollegen, die einander nicht so grün seien, räumt er ein, doch wichtig sei die Vorbildfunktion der Führungskräfte: "Organisationen sind wie Familien, jeder benimmt sich so, wie Mama und Papa das vorleben. Wenn die Mitarbeiter sehen, dass ihre Chefs miteinander auskommen, Spaß haben, einander mit Respekt behandeln, dass wir auch mal verschiedener Meinung sein können und trotzdem hinterher ganz entspannt miteinander umgehen, dann benehmen sie sich auch so." Die Wirkung des Vorbildprinzips liest Mike Sheldon an vielen großen Firmen ab: Unternehmen, die richtig gut und erfolgreich sind, hätten meist ein tolles Topmanagement, das Freude habe und vieles richtig mache. Bei Organisationen, die wirklich mies sind, liege das oft daran, dass auch die Manager mies seien. "Assholes eben", sagt "Papa" Sheldon und lächelt: "So vieles kommt von oben."Und wenn es doch einmal vorkommt, dass die Kinder mit zu viel Ellbogeneinsatz um die Aufmerksamkeit von Dad wetteifern? "Ich liebe meine Leute," sagt der CEO und man glaubt ihm das glatt, "keiner muss um meine Aufmerksamkeit buhlen. Wenn doch, sag ich: 'Mach einfach einen super Job, hab Spaß und beeindrucke den Kunden, nicht mich.'"

Werden klassische Werbeagenturen überhaupt noch Spaß haben?
Immerhin unken viele, das Internet mache nicht nur klassische Medien überflüssig, sondern auch klassische Werbung und damit die Fullserviceagenturen. Unsinn, sagt Mike Sheldon.

In der Bildergalerie bekommen Sie einen Eindruck, wie es in der Agentur aussieht, die ihren Sitz - doppelt deutsch: in der Beethoven Street, Marina del Rey/Los Angeles, hat.

"Ich glaube nicht daran, dass Digital das Fernsehen oder Print vernichten wird", sagt CEO Sheldon, "die Nutzung verändert sich halt ein wenig. Digitale Medien strahlen und glitzern momentan so schön, aber dennoch ist alles Marketingkommunikation. Und das machen wir." Trotzdem erkennt er an, dass die Digitalisierung neue Fachkräfte erfordert - schon, weil alles komplexer und komplizierter wird dadurch, die Technik entwickelt sich rasend schnell.

Die neuen Männer
Um hier nicht nur Schritt zu halten, sondern den Takt vorzugeben, investiert Deutsch in die Fortbildung seiner Mitarbeiter, es finden Trainings und Vortragsreihen statt, um jeden ein Stück weit zum Generalisten und mit der digitalen Welt vertraut zu machen. Obendrein hat Sheldon im Frühjahr einen Chief Digital Officer (CDO) als Partner ins Haus geholt - er hat ein Jahr lang nach einem Profi gesucht und Winston Binch gefunden (siehe Kasten). Binch ist nun bei Deutsch verantwortlich für die Digitalstrategie und -vision, deren Umsetzung und die Entwicklung von neuen Ansätzen.

Live und in Farbe entpuppt sich die Speerspitze in die Zukunft von Deutsch weder als aalglatter Anzugträger, der mit wolkigen Worten ein goldenes Zeitalter beschwört, noch als fahriger Nerd mit unstetem Blick und zerzaustem Haar: Winston Binch ist ein Mann mit einer so bodenständigen Ausstrahlung und Kraft, dass er keine Zirkusvorstellung für die Auslandsjournaille geben muss. Stattdessen hat er spürbare Leidenschaft für seinen Beruf. Und Argumente, die er mit ruhiger, beinah leiser, tiefer Stimme vorträgt.

"Keine Digitalagentur hat je eine Marke aufgebaut", sagt er trocken und ist sich der Grenzen seiner Disziplin sehr bewusst. "Traditionelle Agenturen schon." Aufgabe der Agentur sei es, Geschäftsprobleme zu lösen, und die Lösung sei nicht immer ein TV-Spot, sondern manchmal eine App, manchmal ein Event oder etwas Experimentelles, sagt Winston Binch.

Weil also digital für sich allein nichts ist, hat die Zukunft bei Deutsch nicht einen, sondern zwei Architekten. Den Kreativpart verantwortet Mark Hunter. Der muntere Chief Creative Officer (CCO) mit der doppelten Staatsbürgerschaft ist vor rund einem Jahr aus England zur Agentur gestoßen und bringt nicht nur ein bisschen Pfeffer, sondern gleich noch die internationale Note mit ein, die der amerikanischen Agentur ein wenig abgeht. Mike Sheldon hat seinen Partner und Chief Creative Officer (CCO) bei TBWA, London, abgeworben, Hunter, gebürtiger Kanadier, war aber unter anderem auch bei Wieden + Kennedy, Amsterdam (siehe Kasten).

Gemeinsam stehen der quirlige Hunter und der ruhige Binch für die neue Deutsch, L.A., die Mike Sheldon haben will. Die beiden ergänzen sich gut. Im Gespräch äußert sich das darin, dass Mark sprudelt, Winston ihn ausreden lässt und dann ergänzt, zusammenfasst - oder mit einem einfachen "Ja" den Schlusspunkt setzt. Bei beiden dreht sich aber alles um "Belief", um den Markenkern und darum, wofür dieser steht. Das betrifft nicht nur die Kunden, sondern auch die Marke Deutsch, mit der Hunter und Binch nun renommierte Büros wie die ihrer ehemaligen Arbeitgeber überholen wollen.

"Belief": Wofür die Marke Deutsch steht - und warum sie deshalb Kunden ablehnen muss
"Deutsch soll ein wirklich große Agentur werden. Natürlich kommt es drauf an, wie man Größe misst: finanziell, oder ob die Mitarbeiter zufrieden sind und um fünf heimgehen - unser Ziel ist es, die Agentur zu sein, die definiert, was eine umwerfende Agentur ausmacht: wie sie aussieht, sich anfühlt, wie sie arbeitet in den nächsten fünf bis zehn Jahren."

Mark Hunter will das Maß aller Dinge aus Deutsch machen. Und zugleich den Kunden zeigen, dass sie mehr als nur Produkte verkaufen. Die Kunden auf dem Weg mitzunehmen, den die Agentur gerade selbst geht, ist Mike Sheldon, Winston Binch und Mark Hunter derzeit wichtiger, als den "Little Darth"-Rückenwind auszunutzen, um möglichst viele Neukunden abzugreifen. "Wir wachsen selektiv", nennt CEO Sheldon das, und sein Tonfall verändert sich kein bisschen, als er sagt: "Im vergangenen Jahr haben wir Geschäft in Höhe von einer Milliarde Dollar abgelehnt." Von allerhöchster Bedeutung sei, das richtige Geschäft zum richtigen Zeitpunkt zu machen - weder die Bestandskunden noch die Belegschaft dürften unter der Arbeitsbelastung leiden.

Regeln für das Neugeschäft
"Unsere Kriterien sind deswegen: good money, good work, good people - gutes Geld, gute Arbeit, gute Leute. Bisher wollten wir zwei dieser drei Punkte, heute bestehen wir auf drei von drei", sagt Sheldon selbstbewusst. Und das Arbeitnehmerherz schlägt höher, als er fortfährt: "Wir stecken so viel Herzblut in unsere Arbeit, da kann ich doch keinen Kunden anbringen, von dem ich weiß, dass er seine Agenturen missbraucht oder seine Geschäftspartner nicht respektiert!" Papa Sheldon hat tatsächlich ein Problem damit, seinen Mitarbeitern in die Augen zu sehen und zu sagen, das ist toll, wenn er genau weiß: Man wird ausgenutzt und sitzt bis drei Uhr morgens im Büro.

Wichtig sei, dass der Kunde selbst eine Vision und viel Hingabe für seine Marke mitbringe. Um das zu vermitteln, waren die Partner 2011 auf Tournee bei ihren Kunden. CCO Hunter erklärt: "Wir versuchen zu vermitteln, dass die Marke eine Philosophie braucht, eine Idee, die dahintersteht, 'Belief': Damit gibst du den Leuten einen Grund, deine Marke zu kaufen." Und Binch ergänzt: "Zwar wollen die Kunden immer den TV-Spot, die Anzeige - aber es geht immer um den Kern. Darum zu tun, was nötig ist, um die Marke zu verstehen. Schlecht in der Werbung ist, wenn sie zum Selbstzweck wird. Wir sind alle Konsumenten, wir wollen Marken, die unsrer Leben angenehmer, leichter machen, Spaß machen, unterhaltsam sind." Zu diesen Wahrheiten gelte es zurückzukehren.

Der Kunde verhindert gute Werbung?
Doch wie in Deutschland gibt es auch in den USA Kunden, die kommen rein und wollen was Tolles, und am Ende sieht es aus wie alles andere. "Das gibt's!", sagt Sheldon. Aber es sei auch Sache der Agenturen, ihren Standpunkt zu vermitteln. Selbst wenn das bedeute, doppelt so viel zu arbeiten: "Nein sagen kannst du dann nicht - das endet damit, dass du genau diese Werbung machst", sagt der CEO. Stattdessen lässt er dann zwei Kampagnen entwickeln: "Wenn die Kunden gesehen haben, was sie wollten und was genauso aussieht wie das, was alle Wettbewerber auch machen, und dann sehen sie etwas, was komplett anders ist als das, ein bisschen größer, ein bisschen selbstbewusster, ein bisschen mutiger: Fast immer wird aus 'gib mir, was ich wollte' auf einmal 'oh, das nehm ich'." Zum Beispiel habe Deutsch eine Händlerkampagne für Mitsubishi auf diese Art gemacht - und den Umsatz erhöht: "Aber statt Schnäppchenjägern haben wir die Leute angesprochen, die die Marke begehren."

Solche Erfolge sind das Ziel der Arbeit von Deutsch - und diese Geschichte will Sheldon wieder und wieder erzählen - weshalb er sich Neukunden genau anschaut: "Wir wünschen uns Kunden mit der Möglichkeit, zu wachsen", sagt der CEO.

Wachstum bedeutet derzeit für die werbungtreibenden Unternehmen, in die Sozialen Netze hineinzuwachsen. "Wenn du jetzt nicht an diesem Dialog teilnimmst, werden die Menschen aufhören, deine Marke zu mögen", ist Digitalchef Winston Binch überzeugt. Doch dann ist da noch: ...

Die Angst der Unternehmen vor Kontrollverlust und Shitstorm
 Auf die Frage nach dem Kontrollverlust in Social Media bringt CCO Mark Hunter ein noch sehr aktuelles Beispiel: Deutschs Kunde Dr. Pepper Ten provozierte mit der Kampagne, Ten sei eine Diätlimo nur für Männer - mit eigener Männer-Facebook-Seite. "Tatsächlich fanden viele Leute das ziemlich frauenfeindlich, in Social Media ist das förmlich explodiert. Das war spannend, weil es eine Chance war, zu sehen, hat der Kunde starke Nerven?", erzählt Hunter von der Aktion Anfang Oktober. Böse Kommentare wurde gepostet und die Kreativen warteten ab, wie lange es dauern würde, bis Dr. Pepper sich entschuldigt. "Aber das haben die nicht gemacht, sie behielten die Nerven", freut sich Hunter. Alles folgte der klassischen Facebook-Dramaturgie: Die Lauten und Verrückten kamen zuerst, wie immer, sagt Binch. Dann äußerten sich Frauen, die sich getroffen fühlten - woraufhin einige Männer auf sie losgingen "und sich wie Idioten aufgeführt haben", erzählt Hunter. "All das lenkte die Aufmerksamkeit auf die Geschichte und dadurch beteiligten sich plötzlich eine Menge Frauen an der Diskussion und schrieben: 'Macht euch doch nicht lächerlich, das ist doch nur Spaß.' Ab da wurde es eine positive Diskussion." Der Nutzen für Dr. Pepper und Deutsch: "So haben wir nun einen Kunden, der mehr Erfahrung damit hat, wie Social Media funktioniert, und sich wohlfühlt damit, die Zügel loszulassen."

So neu, beruhigt Digitalprofi Binch, sei das doch ohnehin nicht, was Unternehmen im Netz anfangen zu tun: "Social Media ist ein Kundenservice. Wenn du bedenkst, dass der Kunde König ist, sei entgegenkommend, wertschätzend, entschuldige dich, frage ihn, was du tun kannst: All das sind seit Jahrzehnten Prinzipien des Kundenservice, nur die Instrumente heute sind andere. Und du musst sie einsetzen." Die Gefahr besteht nur dann, wenn die Marke nicht mehr authentisch ist: "Wenn du das nicht schaffst, dann massakrieren sie dich wirklich."

Schon sind wir wieder beim Thema "Belief", bei den Grundwerten und der Überzeugung, die eine Marke vertritt.

Mit dem "Believ" von Deutsch sichert sich die Agentur gerade den Weg in die Zukunft - mit neuem Aufbau, neuen Strategien und neuen Mitarbeitern - aus aller Welt: Zwar werde Deutsch, international ans Netz von Lowe angedockt, außerhalb der USA keine Büros eröffnen - aber globaler werden und globaler werben. "Viel von unsererm Wachstum kommt weltweit, also suchen wir Leute von überallher", sagt Mike Sheldon. Die Globalisierung sei harte Arbeit, aber auch eine spaßige Herausforderung für seine Agentur.

So wie mit dem internationalen Kunden VW - für den hat Deutsch inzwischen, ganz ohne Rückenwind vom Super Bowl, schon einen zweiten Werbespot weltweit im Einsatz. "High five" für den neuen Beetle.

"Wir müssen geniale Kampagnen machen", zitiert Mike Sheldon seinen deutschen Kunden Volkswagen. "VW liebt gute Arbeit und versteht, dass das ihr Geschäft beflügelt und wie wichtig Kreativität ist." Auch zu Hause.

Ein weiterer Agenturbesuch führte zu TBWA/Chiat/Day in L.A.


Autor: Susanne Herrmann

schreibt als freie Autorin für W&V. Die Lieblingsthemen von @DieRedakteurin reichen von abenteuerlustigen Gründern über Medien und Super Bowl bis Streaming. Marketinggeschichten und außergewöhnliche Werbekampagnen dürfen aber nicht zu kurz kommen.