
Kommentar von Matthias Onken:
Medienzirkus um Kohl: Der kalkulierte Tabubruch
"Darf man das?" fragt sich die Republik unmittelbar vor der Veröffentlichung der "Kohl-Protokolle". Gehören die geheimen Aufzeichnungen aus dem Kanzler-Keller wirklich in die Medien? Der frühere "Bild"-Redaktionsleiter Matthias Onken erklärt, was von der öffentlichen Aufregung zu halten ist.

Foto: Matthias Onken
"Darf man das?" fragt sich die Republik unmittelbar vor der Veröffentlichung der "Kohl-Protokolle". Gehören die geheimen Aufzeichnungen aus dem Kanzler-Keller wirklich in die Medien? Der frühere "Bild"-Redaktionsleiter Matthias Onken* erklärt, was von der öffentlichen Aufregung zu halten ist.
Helmut Kohl demontiert sein eigenes Denkmal. Mal wieder. Gegen den Willen des Einheitskanzlers veröffentlicht dessen Biograf Heribert Schwan dieser Tage in Eigenregie Kohls derbe Beleidigungen langjähriger Parteifreunde. Die Essenz des Hasses aus mehr als 100 Gesprächen, in denen Kohl über sein politisches Lebenswerk parlierte.
Die "Protokolle" entlarven Kohl, der über die Schwarzgeldaffäre seiner CDU in die politische Versenkung gestolpert war, als einen, der es nicht erträgt, keine Relevanz mehr zu haben. Und als einen, der sich von seinen Zöglingen um Ruhm und Ehre gebracht sieht.
Es ist schon drollig: Nach mehr als 50 Jahren Erfahrung mit Journalisten hat Kohl noch immer nicht begriffen, was man sagt und vor allem: was nicht. Zumal, wenn ein Aufnahmegerät läuft. Oder nahm er die Veröffentlichung vor zwölf Jahren sogar in Kauf? Aus jener Zeit stammen die Pöbeleien in Schwans Buch, dessen Auslieferung Kohl gerade zu stoppen versucht. Reife 72 war der Kanzler a.D. immerhin schon damals. Doch die Milde des Alters war und ist Kohl nicht vergönnt. Als Wüterich erweist er sich in den Gesprächen mit Schwan. Wer zu seinen Amtszeiten nicht zu lakaienhafter Gefolgschaft bereit war, bekommt von ihm wuchtig an die Backen: Merz, Blüm, Geißler, Süssmuth, Wulff und – Überraschung – Merkel.
Dass Kohl im Frühjahr vor Gericht die Herausgabe der Tonbänder erstritt, ist seiner zweiten Frau zu verdanken, die in die Produktion der offiziellen Biografie gegrätscht war. Maike Richter ahnte, was passieren würde, würden die Hasstiraden eines Tages öffentlich. Und Kohl? Dafür, dass sein Ghostwriter den ganzen Senf zu Einheit, Euro und Europa in lesbare Form zu bringen hatte, spendierte er ihm eine Salve Häme für namhafte Parteifreunde. Was Deftiges für zwischendurch.
Wer gegenüber einem Journalisten solche Bombe platzen lässt, muss mit einer Veröffentlichung rechnen. Wenn nicht sofort, dann irgendwann von hinten durch die kalte Küche. Das ist nun mal der Job von Journalisten: schreiben, nicht verschweigen. Und nichts könnte Kohls oft erahnte Verbitterung besser belegen als O-Töne á la "Die Merkel konnte nicht mal mit Messer und Gabel essen." Respektloser, abschätziger, absoluter geht es nicht.
Die losgebrochene "Darf man das?"-Debatte über die vor Gericht einkassierten und nun im Heyne-Verlag unautorisiert veröffentlichten "Kohl-Protokolle" nützt in jedem Fall einem: Kohls Ex-Intimus Schwan. Der kalkulierte Tabubruch wird ein Vielfaches mehr an Kasse machen, als es die glatt redigierten "Erinnerungen", die auf den frei gegebenen Gesprächspassagen basieren, geschafft haben.
Das Verhalten des früheren WDR-Manns Schwan mag Moralwächtern aufstoßen – am Ende hat er exakt das getan, wovon wohl jeder Redakteur schon mal geträumt hat: unter Quellenangabe aufschreiben, was "unter drei" tatsächlich gesagt wurde. Autorisierung hin, Autorisierung her: Für Schwan galt das gesprochene Wort. Nicht fein, aber konsequent.
Ob das legal ist, müssen Gerichte entscheiden. Das Urteil werden sich Medien ebenso wie Zitatgeber aus Politik und Wirtschaft sehr genau ansehen.
Aus der Welt zu klagen sind die Beleidigungen ja ohnehin nicht mehr – zum einen ist ihre Authentizität unstrittig, zum anderen sind sie dank des Vorabdrucks im "Spiegel" (der erste Scoop seit langer, langer Zeit) medial in alle Winde verlinkt.
Biograf Schwan dürften nicht nur die von Kohl Abgewatschten dankbar sein: Wenn es noch eines Beweises für die verlorene Bodenhaftung des Altkanzlers bedurfte, so hat er ihn nun selbst geliefert.
Es ist schon paradox: Kohls glücklosem Amtsvorgänger Helmut Schmidt klebt die Nation heute an den Lippen, dem großen Nachfolger wünscht man in Tagen wie diesen, seine Frau würde ihm selbige zupflastern. Als Schutz vor sich selbst.
* W&V-Kolumnist Matthias Onken war Chefredakteur der "Hamburger Morgenpost" und Redaktionsleiter von "Bild Hamburg". Heute arbeitet er als Kommunikationaberater in Hamburg.