
Nationaler Wohlstands-Index: Sorgenfreiheit und Sicherheit wichtiger als Konsum
Das Institut Ipsos und der Zukunftsforscher Horst Opaschowski haben ein Barometer entwickelt, das den Wohlstand in Deutschland neu definiert und bemisst. Das erste Ergebnis zeigt: Den Deutschen ist Sicherheit wichtiger als Luxus. Interessante Einsichten auch für die Werbeindustrie....
Als einziges Land der Erde misst das kleine Königreich Bhutan das Lebensgefühl seiner rund 700.000 Bürger anhand des Bruttosozialglücks. Das ist sogar als Staatsziel in der Verfassung verankert. Ihre Lehre: Das Bruttosozialprodukt eines Landes alleine sagt noch gar nichts aus über das Wohlbefinden der Bevölkerung. Das individuelle Glück des Einzelnen braucht auch entsprechende politische, kulturelle, wirtschaftliche und soziale Rahmenbedingungen. Ähnlich verhält es sich mit dem Wohlstand eines Landes, der oft mit ökonomischem Wachstum gleichgesetzt wird. Die Deutschen definieren Wohlstand jedoch sehr viel differenzierter, das zeigt der neue Nationale WohlstandsIndex für Deutschland - kurz NAWI-D - der heute in Hamburg vorgestellt wurde. Befragt wurden 2000 repräsentativ ausgewählte Bundesbürger. Ein Fazit: Allein ein höherer Lebensstandard bedeutet kein höheres Maß an Lebenszufriedenheit.
Entwickelt hat den Index das Marktforschungsinstitut Ipsos in Zusammenarbeit mit dem Zukunftsforscher Horst Opaschowski. Demnach assoziieren die Bundesbürger mit dem Begriff Wohlstand nicht nur materiellen Besitz, sondern auch ökologischen, gesellschaftlichen und individuellen Wohlstand. So bedeutet Wohlstand für sie in erster Linie ein Gefühl von Sicherheit: ohne Geldsorgen, frei und in Frieden, gesund und ohne Zukunftsängste leben, aber auch naturnah und nachhaltig. Das schließt gesellschaftlichen Fortschritt ebenso ein wie die Verbesserung der persönlichen Lebensqualität.
Professor Opaschowski: "Es geht nicht mehr um das Immer-Mehr. Die Deutschen wollen ihren erarbeiteten, verdienten und erworbenen Wohlstand in Sicherheit bringen und sich gegen Lebensrisiken absichern – vom gesicherten Arbeitsplatz über das sichere Einkommen bis zur sicheren Rente. Wohlstand im 21. Jahrhundert hat seine 'Luxus'-Komponente verloren. Wohlhabend ist der, der sicher und sorgenfrei leben kann."
Das Wohlstandsbarometer setzt sich wie folgt zusammen: 39 Prozent für den ökonomischen Wohlstand, 12 Prozent für den ökologischen Wohlstand, 18 Prozent für den gesellschaftlichen Wohlstand, 31 Prozent für den individuellen Wohlstand. Das ernüchternde Ergebnis: In der ersten Erhebung ermittelt Ipsos einen Indexwert von 42,4 von 100. "Wenn man bedenkt, dass der Wert rein theoretisch zwischen 0 und 100 liegen kann, gibt es in einem reichen Land wie Deutschland noch viel Luft nach oben", so Hans-Peter Drews, Managing Director von Ipsos Observer.
"In unsicheren Krisenzeiten hat der Wunsch nach Wohlstand mehr mit der Verhinderung von Angst, Not und Sorge als mit Geldausgeben und dem Genuss von Luxus und Überfluss zu tun. Zugespitzt in der Erkenntnis: Die fetten Jahre sind vorbei – das Schlaraffenland ist abgebrannt", so Opaschowski. "In den meisten Wohlstandswünschen der Bevölkerung geht es um Leib und Leben – und nicht um Glücksgefühle".
Fast drei Viertel der Deutschen (71 Prozent) "fühlen" sich erst wohlhabend, wenn sie materiell soweit abgesichert sind, dass sie "keine finanziellen Sorgen haben" müssen. Erst wenn das Einkommen (65 Prozent), der Arbeitsplatz und die Rente (62 Prozent) "sicher" sind, erlauben sie sich weitere Wohlstandsträume. Das Sicherheitsdenken überwiegt in Deutschland: "Keine Angst vor der Zukunft haben" (54 Prozent) heißt es für die Mehrheit der Bundesbürger. Wohlstand fängt bei ihnen mit dem Wohlfühlen an – vom "Sich-gesund-Fühlen" (53 Prozent) bis zur Gewissheit, "sich eine gute medizinische Versorgung leisten zu können" (54 Prozent). Und sozial gesehen sorgen erst die "guten Freunde" (43 Prozent) und der "Kontakt zu Familie und Verwandten" (40 Prozent) für Schutz und Sicherheit und – wenn es sein muss – auch für Hilfe in der Not.
Trotzdem wissen die Deutschen die gesellschaftlichen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte sehr wohl zu schätzen. „In Frieden mit den Mitmenschen leben“ (64 Prozent) und seine „Meinung frei äußern können“ (61 Prozent) werden als gesellschaftlicher Wohlstand hoch bewertet. Auch intensive Familienbeziehungen (64 Prozent) und die Pflege der Kontakte zu guten Freunden (58 Prozent) sorgen für Wohlergehen im eigenen Land. Dabei zeigt sich auch: Je mehr Menschen im Haushalt zusammenwohnen, desto glücklicher und gesünder fühlen sie sich. Nur jeder dritte Alleinlebende (33 Prozent) kann von sich sagen: „Ich bin glücklich“; das Glücksgefühl ist bei Vier-Personen-Haushalten deutlich höher (57 Prozent).
Die Ergebnisse deuteten auf einen grundlegenden Paradigmenwechsel vom Wohlleben zum Wohlergehen hin. Opaschowski: „Die Wohlstandsgesellschaft als Wegwerfgesellschaft war im ausgehenden 20. Jahrhundert noch ein großes Thema. Jetzt gleicht die Wohlstandsgesellschaft mehr einer Wohlfühl- und Wohlergehensgesellschaft, die ihren Bürgern soziale Sicherheit und soziale Wärme garantieren soll.“ Eine Botschaft, die Politiker, aber auch die konsumorientierte Werbebranche nicht ignorieren sollten.