Gleichwohl: Was ist zu erwarten, wenn sich die Gewichte immer weiter verschieben?

Irgendwann wird der klassische Bewerbungsprozess die quasi umkippenden (Macht-)Verhältnisse nicht mehr abbilden. In einigen Engpassbereichen wird das Talent Empowerment sehr weit fortschreiten. Self-Recruiting wird ein Thema werden: Per Exklamation wird eine – zunächst begrenzte – Zugehörigkeit zu einem Arbeitgeber festgestellt, der dann relativ zügig Einblicke in das betriebliche Geschehen, potenzielle Teams und für das Talent erreichbare Entwicklungs-schritte aufzeigen sollte.

Wobei das persönliche Self-Recruiting nur die Variante für ein besonders hohes Interesse sein wird. Für die übrigen Fälle wird ein persönlicher Talent-Avatar als Stellvertreter eingesetzt, der auf ausgewählte Profilbereiche und spezifische Anforderungen zurückgreifen kann. Technisch sind solche Software-Bots kein großer Sprung, zumal die geneigten Talente die Interaktionen werden fernsteuern können.

Es wird denkbar, dass ein Kandidat mittelbar als Beobachter teilnimmt und einen ausschnittweisen Ein-blick, etwa in die tatsächliche Arbeitszeit und Teamatmosphäre bekommt. So werden die relativ aktionslosen „I like“-Buttons durch „I try“ und „I join for a while“ und „I take part“ ausgebaut. Arbeitgeber werden mit diesen temporären virtuellen Fan-Mitarbeitern umzugehen haben. Sie sind nun die Kandidaten.

Wir wissen noch nicht genau, wie weit etwa die Michelin-Punkte der Restaurant-Tester als Vorbilder passen, aber mit Sicherheit werden die Talent-Avatare eine Art von mehr oder weniger facettenreichem Arbeitgeber-Score protokollieren. Der geneigte Kandidat, der zumeist mehrere Avatare im „Testbetrieb“ haben wird, läßt diese Scores in seinen weiteren Entscheidungsprozess einfließen: Wer bekommt im weiteren Prozess mehr reale Aufmerksamkeit, das knappste Gut?

Nun werden Viele einwenden, dass es doch eine sehr skurrile Vorstellung sei, eine so wichtige Entscheidung durch eine so zweifelhafte Scheinwelt beeinflussen zu lassen. Viel Erfolg versprechender sei es doch, wertgeschätzte Talente mit gestellten Schauspielerfotos, getunten Werbezitaten und kantenlosen Einheitstexten zu überzeugen. Es ist nur ein Szenario für die Zukunft ...

Personalmarketing-Experte Professor Dr. Martin Grothe ist Geschäftsführer der Complexium GmbH in Berlin. Kontakt: grothe@complexium.de, www.complexium.de


Judith Stephan
Autor: Judith Stephan

Sie arbeitet seit über zwanzig Jahren im Redaktionsmanagement der W&V. In ihrer Funktion als Chef vom Dienst ist sie vor allem für die Bereiche Termin-, Budget- und Personalplanung sowie für Autoren und Fortbildung zuständig.