W&V Worin besteht denn nun die „Kunst der Gelassenheit“?

Lewitan Es geht primär um die Fähigkeit zu wissen, wo die eigenen Stärken, Schwächen und Grenzen liegen. Und die Fähigkeit, sich trotz eigener Unvollkommenheit dennoch wertzuschätzen. Die Kunst der Gelassenheit ist ein Gesamtlebenskonzept. Es gilt, sich diesem Ideal anzunähern, wohlwissend, dass man es im Grunde nie erreichen wird. Weil zum Beispiel die Unternehmenszahlen trotz bester Strategie doch nicht erzielt worden sind, weil man mit der Entwicklung eines Produkts doch ins Hintertreffen kommt, oder weil trotz Planung der Kunde mit der Präsentation doch nicht glücklich ist.

W&V Wie entgeht man mentaler Überforderung?

Lewitan Die Fähigkeit zu fokussieren ist das A und O. Um fokussieren zu können, muss man in der Lage sein, Prioritäten zu setzen. Das geht nur, wenn man sehr schnell entscheiden kann, was wichtig und was unwichtig ist. Es ist wie in der Fotografie: Die Schärfe impliziert, dass ich etwas ausblende. Außerdem muss ich mir eingestehen, dass ich nicht vollkommen bin und auf die Dauer nicht gleichzeitig alles in der gebührenden Qualität liefern kann, ohne mich selbst oder meine Mitarbeiter zu verausgaben.

W&V Wovon hängt die Stress-Resistenz ab?

Lewitan Je nach Konstitution, die angeboren ist, bekommen wir von der Natur aufgezeigte Grenzen. Der eine hält mehr Druck aus, der
andere weniger. Auch die Dauer anstrengender Phasen ist entscheidend. Ein Beispiel: Fünf Minuten in der eisigen Kälte zu stehen, ist
eigentlich nicht so schlimm. Wenn man aber bereits eine Stunde draußen war und dann erfährt, man muss noch weitere fünf Minuten
frieren, hält man das kaum aus. Die fünf Minuten haben eine unterschiedliche Qualität. Und natürlich hat der Erfolg auch seinen Preis.
Der Preis, den der Einzelne zahlen will, ist individuell unterschiedlich.

W&V „Bild“-Chef Kai Diekmann sagt in Ihrem Buch, am besten könne er zu Hause bei seiner Frau und den vier Kindern abschalten, weil ihn dort keiner ernst nehme.

Lewitan (lacht) Es gibt keine allgemeingültige Regel. Jeder muss für sich herausfinden, wie er am besten abschalten kann – egal ob mit Sport, Freunden oder der Familie. Bei meinen Coachings fällt mir eines besonders auf: In Agenturen herrscht chronische Müdigkeit. Es gibt keinen Ruheraum, in den man sich zurückziehen kann. Man gibt vor, präsent zu sein, ohne wirklich mit Kopf und Herz dabei zu sein. Wer konstant im On-Modus lebt, zahlt einen hohen Preis.

W&V Besteht in Zeiten der Krise höherer Beratungsbedarf?

Lewitan Der Bedarf nach Einzel- und Team-Coaching ist deutlich gestiegen. Durch den strukturellen Umbruch, der im Moment besonders in der Kommunikationsbranche stattfindet, ist der Druck auf den Einzelnen mittlerweile extrem. Immer mehr Arbeit wird auf immer weniger Schultern verteilt. Gleichzeitig erfährt der Einzelne immer weniger Anerkennung und Wertschätzung für die erbrachte Leistung. Außerdem gibt es in der Krise kaum Möglichkeiten, den Job zu wechseln. Die beflügelnde Aussicht auf eine bessere Arbeit in einem anderen Unternehmen entfällt.

W&V Die Grenze von mentaler Überforderung zum Ausbrennen scheint fließend zu sein. Mit welchen Symptomen kündigt sich ein Burn-out an?

Lewitan Jemand, der sich selbst mag, wird auf seine innere Alarmanlage hören – wenn ich über längere Zeit völlig erschöpft bin und merke, dass meine Kreativität und meine Konzentrationsfähigkeit nachlassen. Außerdem alarmierend: Wenn ich mich zunehmend zurückziehe und freud- und lustlos bin. Oft merken es Lebenspartner oder Freunde zuerst. Man sollte die Hinweise ernst nehmen. Komisch, wenn ein Signal beim Auto aufleuchtet, dann fährt man sofort in die Werkstatt. Beim eigenen Körper überhören wir diese Signale.

Wie Sie Stress-Situationen meistern und worin die Kunst der Gelassenheit besteht, erfahren Sie in der aktuellen Ausgabe der W&V (14/2010). Dort finden Sie zur Titelgeschichte "Stress" das gesamte Interview mit Louis Lewitan. Der Psychologe steht außerdem am kommenden Dienstag, den 13. April von 14 bis 15 Uhr für Ihre Fragen auf www.facebook.com/wuv bereit.


Autor: Lisa Priller-Gebhardt

Sie schreibt als Autorin überwiegend für W&V. Im Zentrum ihrer Berichterstattung steht die geschwätzigste aller Branchen, die der Medien. Nach der Ausbildung an der Burda Journalistenschule schrieb sie zunächst für Bunte und das Jugendmagazin der SZ, Jetzt. Am liebsten sind ihr Geschichten der Marke „heiß und fettig“.