Macht sich die agile Arbeitsweise tatsächlich auch in Zahlen bemerkbar? 

Wenn wir die Gelegenheit haben, mit jemandem über das Buch zu sprechen, dann nutzen wir das natürlich auch, um unsere Produkte vorzustellen. Zur agilen Arbeitsweise: Eine messbare und sehr deutliche Veränderung haben wir in der Entwicklungsgeschwindigkeit für unsere Software gesehen - was früher Monate und Jahre dauerte, kann heute in Tagen oder Wochen erledigt werden.

Sie werden oft von anderen Unternehmen eingeladen, über Ihre Erfahrungen zu referieren. Haben Sie nicht Angst, Ihren USP kaputt zu machen, wenn Sie die Konkurrenz zu sehr qualifizieren?

Nein, denn Offenheit gehört zum System. Auch wir haben uns diese Dinge nicht selbst ausgedacht, sondern sind ganz massiv auf Vorarbeit von Toyota bis zum Agilen Manifest angewiesen gewesen. Das gilt auch weiterhin, denn unsere größte Quelle für weitere Ideen und Ansätze sind die Erfahrungen anderer.

Einige der Work Hacks interessieren uns natürlich ganz besonders. Zum Beispiel haben Sie eingeführt, dass jede Woche fünf Teammitglieder Feedback erhalten. Sie können sich selbst aussuchen, wer sie bewertet, es müssen nur drei bis fünf Leute sein. Welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht? Woran messen Sie konkret, ob Entwicklungspotenziale besser genutzt werden?

Die Erfahrungen sind durchweg positiv, insbesondere, weil einige Details das Feedback wertvoll machen. Zum einen ist es dem Feedbacknehmer nicht gestattet, während des Feedbacks zu reden. Verständnisfragen ja, aber Verteidigungen, Gegenargumente oder andere Perspektiven darzustellen, verbietet das Format. Das erzeugt ein ungefiltertes und intensives Feedback. Zum anderen ist ein Teil für Dinge, die man gut macht, und zusätzlich für "Highlights" reserviert. Auch das erhöht den Wert der Veranstaltung enorm. Gemessen wird bei "Feedback für alle" nichts. Das Feedback ist allein für denjenigen bestimmt, der es erhält. Es fließt in keine Personalakte ein oder wird sonstwie protokolliert. Bei Sipgate wird Selbstverantwortung großgeschrieben und wir glauben daran und haben auch die Erfahrung gemacht, dass jeder sich weiterentwickeln will. Das ehrliche Feedback der direkten Kollegen hilft dabei. Jeder, der bei Sipgate arbeitet, nimmt an diesem Format teil. Ich selbst natürlich auch.

Bei Ihnen entscheidet das Team und nicht die Personalabteilung, ob es noch jemanden braucht und wer zu ihnen passt. Trifft die Cloud immer die bessere Entscheidung als ein Einzelner?

Bei diesem System geht es nicht um "Cloud" vs. "Experte", sondern vielmehr um die Erkenntnis, dass die Mitglieder eines Teams die Experten für Neueinstellungen sind. Nicht das HR-Team. Nicht die Geschäftsleitung. Sondern Personen mit der gleichen Rolle und den gleichen Aufgaben. Fachlich wie persönlich können z.B. UX-Designer einen anderen UX-Designer, mit dem sie vielleicht täglich zusammenarbeiten sollen, doch viel besser einschätzen als etwa jemand mit rein betriebswirtschaftlichem Hintergrund, der nach einer Einstellung im Arbeitsalltag nur noch wenig mit der Person zu tun hätte. Die Kolleginnen und Kollegen werden dabei vom HR-Team unterstützt, begleitet und geschult, aber die Verantwortung tragen die Teammitglieder. Von Stellenausschreibung über das Vorstellungsgespräch bis zur Probezeitbegleitung - und darüber hinaus, nämlich bis zur manchmal notwendigen Trennung.

Es gibt viele Meetings, viele Abstimmungsschleifen und gleichzeitig leisten Sie sich den Luxus, immer zwei Programmierer aneinen Code zu setzen (Pairing). Macht Sie das trotzdem zu einem schnelleren Unternehmen?

Ja! Der Grund ist ganz einfach: Zwei Leute sehen viel mehr als einer und sparen damit sehr viel wertvolle Zeit für das spätere Korrigieren von Fehlern. Wenn Sie einen Softwarebug während der Entwicklung vermeiden, haben sie dafür vielleicht nur eine Minute gebraucht - wenn die Software aber erst einmal an den Kunden ausgeliefert wurde und der Fehler erst dort entdeckt wird, haben Sie manchmal bereits Wochen verloren. Auch der Aufwand für das späte Korrigieren ist viel höher, da man sich dann erst wieder einarbeiten muss. Wir sind der Meinung, dass einzeln arbeitende Programmierer ein Luxus sind, den wir uns nicht leisten können (und auf den hier glücklicherweise auch niemand mehr Lust hat).

Planen Sie eine zweite Auflage der "Work-Hacks"? Eine Weiterverfolgung des Buchprojekts?

Wir denken über eine weitere Version nach, aber wie das aussehen könnte, wird noch nicht verraten!

Welche weiteren Work-Hacks planen Sie, die noch nicht im Buch erfasst sind?

Wir arbeiten an einem offenen Gehaltsmodell, das wir in einer zukünftigen Ausgabe vorstellen werden.


Autor: Anja Janotta

seit 1998 bei der W&V - ist die wohl dienstälteste Onlinerin des Hauses. Am liebsten führt sie Interviews – quer durch die ganze Branche. Neben Kreativ- und Karrierethemen schreibt sie ab und zu was völlig anderes - Kinderbücher. Eines davon dreht sich um ein paar nerdige Möchtegern-Influencer.