
Walter Jens:
Erinnerungen an den kreativsten Professor
Der am Sonntag verstorbene Walter Jens hat die Werbebranche nie besonders gemocht – im Gegensatz zu seinen Kollegen, die jede Menge Seminare zum Thema Werbesprache anboten. Und doch sind viele seiner Studenten in die Werbe- und Medienbranche gelangt. W&V-Chefredakteur Jochen Kalka ist einer von ihnen. Erinnerungen an einen kreativen Lieblingsprofessor.
Creative Writing bei Walter Jens, Tübingen im Jahre 1987. Wir Studenten hatten eine literarische Neuinterpretation über die Ermordung des renommierten Historikers Johann Joachim Winckelmann zu verfassen. Da gab es einen Studenten, der kam einfach nie auf den Punkt. Einmal rastete Walter Jens dann aus, aber kabarettistisch und verglich den Text mit einem Dia-Abend bei unangenehmen Bekannten. "Wir wollen die Bilder der Italien-Reise endlich sehen, damit wir es hinter uns haben, doch nach drei Stunden anstrengender Dia-Schau sind wir immer noch auf der Hinfahrt beim Bodensee."
Walter Jens, der auch auf Demos in Mutlangen politische Zeichen setzte, der einem US-Soldaten unerlaubterweise in seinem eigenen Zuhause im Tübinger Philosophenweg Asyl gewährte, als dieser in den Irak abberufen wurde, im Jahr 2003, als Jens gerade 80 Jahre alt wurde, ist gestorben und ich empfinde Wehmut bei meinem Lieblingsprofessor. Dem Lieblingsprofessor wohl aller Studenten, die er je Menschlichkeit gelehrt hat, im Studiengang Rhetorik. Über sein Leben, sein Tun, seine elaborierten Highlights möchte ich hier nicht schreiben, vielmehr über ein paar wenige Eindrücke einer seiner einstigen Studenten.
Er war anders als andere. Er wollte immer so wahnsinnig viel Wissen weitergeben, so dass ihm seine Seminarzeit nie ausreichte. Also setzte er seine Seminare einfach fort. Auch in den Ferien oder abends, oft bis zu drei Semester lang, einfach weiter, unentwegt weiter. Um Zwang, Scheine, Noten ging es ihm dabei natürlich nicht.
Wenn einmal ein Student eines seiner Lieblingsbücher noch nicht gelesen hatte, ein Kafka-Werk oder etwa Friedrich Dürrenmatts "Der Richter und sein Henker", dann freute sich Walter Jens und sagte: "Sie haben es gut, Sie haben das wunderbare Buch noch vor sich…"Und er meinte es ernst.
Längst schon war er emeritiert, Walter Jens, im Jahr 1990, als er meine Magister-Prüfung abnahm, als einen der drei letzten Prüflinge überhaupt. Jens erzeugte keine Prüfungssituation, setzte sich an eine völlig andere Stelle des Raumes, nicht mir gegenüber und nahm ein Buch zur Hand. Dann begann er vorzulesen, fünf Minuten, zehn, wohl zwanzig Minuten lang, eine Ewigkeit. Er klappte das Buch zu und fragte, ob mir das Buch bekannt vorkäme. Tja, leider musste ich negieren. Den "Anton Reiser" von Karl Philipp Moritz hatte ich nicht gelesen. "Dann besorgen Sie sich das Buch nachher direkt auf dem Heimweg. Es ist es wert", sagte Jens und setzte die Prüfung fort, in dialogischer Weise, über Sprache des Widerstands im Dritten Reich.
Die Kreativbranche hat der intellektuell-kreative Rhetor nie besonders gemocht – im Gegensatz zu den wenigen weiteren Rhetorik-Professoren an der Eberhard-Karls-Universität, die jede Menge Seminare zum Thema Werbesprache anboten. Und doch ist es der Jens-Schule gelungen, einen großen Teil seiner Studenten in die Werbe- und Medienbranche zu führen.
Danke, lieber Walter Jens!