Amazon International:
"Deutsche Händler unterschätzen ihr internationales Potenzial"
Amazon treibt die Internationalisierung seiner Verkaufspartner voran. Doch gerade die deutschen Händler sind beim Sprung über die Landesgrenzen zögerlich, beklagt Amazons Global Selling-Chef Rolf Kimmeyer - und rät zu weniger "German Angst".
Wenn deutsche Händler über den Verkauf ins Ausland nachdenken, ist das Netzwerk von Amazon ein verlockender Startpunkt. Ein paar Klicks im Seller Central, und schon stehen die eigenen Angebote auf sechs europäischen Marktplätzen. Doch der Weg über die EU-Grenzen hinweg fällt oft schwer. Dabei gibt es dort die lukrativsten Märkte zu erkunden, meint Rolf Kimmeyer, bei Amazon verantwortlich für den Bereich Global Selling.
Herr Kimmeyer, wie international sind die deutschen Amazon-Händler aufgestellt?
Rolf Kimmeyer: Um diese Frage zu beantworten, müssen wir erstmal "Internationalität" definieren. Da gibt es eine große Bandbreite - vom Verkaufspartner, der ein paar Mal im Jahr ein Paket nach Frankreich verschickt, bis hin zu solchen, die in die ganze Welt exportieren. Grundsätzlich können wir davon ausgehen, dass mehr als 75 Prozent der 40.000 deutschen kleinen und mittleren Unternehmen (KMU), die auf Amazon aktiv sind, ins Ausland verkaufen. Damit haben sie im Jahr 2020 Exportumsätze in Höhe von 3,75 Milliarden Euro erwirtschaftet.
Das klingt doch gar nicht so schlecht…
Kimmeyer: Auf den ersten Blick nicht - aber wenn man sich die Auslandsaktivitäten der meisten Verkaufspartner genauer anschaut und mit denen ihrer internationalen Kollegen vergleicht, ergibt sich ein anderes Bild. Der überwiegende Teil der deutschen KMU verkauft ausschließlich innerhalb der EU - und der mit Abstand größte Teil der Produkte wird von den meisten weiterhin innerhalb Deutschlands verkauft. Da ist die Umsatzstruktur von Verkaufspartnern aus anderen Ländern deutlich internationaler. Deutschland ist zwar in der Industrie traditionell einer der Exportweltmeister - aber im Retail- und Konsumgüterbereich haben wir noch Aufholbedarf.
Wer läuft uns denn den Rang ab?
Kimmeyer: Grundsätzlich sind Verkaufspartner aus kleineren Ländern wie den Niederlanden oder Schweden deutlich exportfreudiger, was ja auch nachvollziehbar ist: Deren Heimatländer sind viel kleiner, die Umsatzpotenziale deshalb geringer - da ist der Schritt über die Grenzen auf der Suche nach neuen Zielgruppen ganz natürlich. Aber auch britische Verkaufspartner sind international sehr stark; allein wegen der Sprache sind viele von ihnen auf Amazon.com aktiv - ein Marketplace, vor dem viele deutsche Verkaufspartner immer noch zurückschrecken, obwohl er mit Abstand die größten Umsatzpotenziale bietet.
Herausforderung der Internationalisierung
Deutsche Händler wählen die Märkte eher nach der geografischen Nähe aus…
Kimmeyer: Ja, die meisten steigen in die Internationalisierung mit der DACH-Region ein und wagen sich dann langsam an die deutschen Nachbarländer heran. Das liegt daran, dass die deutschen Verkaufspartner dazu neigen, die Herausforderung der Internationalisierung zu überschätzen - und ihre eigenen Fähigkeiten und das Potenzial ihres Sortiments zu unterschätzen. Es fehlt mitunter am Mut, einfach mal was auszuprobieren. Dabei möchten wir unsere Verkaufspartner gerne unterstützen.
Sie versuchen, deutsche Händler von einer Präsenz auf Amazon.com zu überzeugen…
Kimmeyer: Absolut. Amazon.com ist nicht nur der Amazon Store, in dem US-Amerikaner einkaufen. Die meisten Amazon-Kunden weltweit, in deren Land es keinen eigenen Amazon Store gibt, shoppen auf Amazon.com. Damit erreichen Verkaufspartner auf dem Marketplace eine unglaubliche Vielfalt an Kunden, das Umsatzpotenzial ist gigantisch. Einzelne Nischen sind dort so groß wie das Gesamt-GMV kleinerer Marketplaces. Wenn ich auf Veranstaltungen spreche, frage ich die anwesenden Unternehmer immer: Nach welchem Kriterium wählt ihr das Land für die nächste Internationalisierung aus? Und die Antwort lautet meist: Wir entscheiden nach dem Umsatzpotenzial. Aber wenn die Verkaufspartner das wirklich tun würden, müssten alle auf Amazon.com starten - und die wenigsten tun das.
Wobei es auch Ausnahmen gibt: Wir sehen beispielsweise gerade den Trend, dass bekannte Marken aus dem deutschen Mittelstand wie medipharma cosmetics von Dr. Theiss Naturwaren den direkten Weg in die USA suchen - und das sehr erfolgreich.
Was macht den deutschen Händlern denn am meisten Angst, wenn sie an Amazon.com denken?
Kimmeyer: Das Thema Steuern ist ein besonders großer Hemmschuh für viele Verkaufspartner. Dabei ist das oft gar nicht so ein großes Problem. In den USA beispielsweise führt Amazon gemäß dem Market Place Facilitator Gesetz die Umsatzsteuer auf Verkäufe von Drittanbietern ab. Auch über Compliance-Themen machen sich viele große Sorgen, dabei sind wir Deutschen da in der Regel sehr gut aufgestellt, weil die deutschen Sicherheitsbestimmungen sowieso schon im weltweiten Vergleich sehr streng sind. Zudem gibt es da auch viel Hilfestellung, zum Beispiel von den Außenhandelskammern oder Experten aus unserem Service Provider-Netzwerk. Viele Themen werden heißer gekocht als sie gegessen werden.
Viele Händler fürchten aber auch die enormen Dimensionen und die harte Konkurrenz auf Amazon.com.
Kimmeyer: Das ist richtig, und tatsächlich sollte man das Motto "Think Big" auf Amazon.com nicht unterschätzen. Viele deutsche Verkaufspartner denken beim Gang in die USA einfach zu klein. Sie schicken dann ein paar Produkte oder maximal einen Container in ein amerikanisches Logistikzentrum, zum Ausprobieren und Vorfühlen - und dann geht die Ware schneller Out-of-Stock, als der Verkaufspartner nachliefern kann und der Verkaufspartner startet mit dem nächsten Container quasi wieder von vorne. Das ist schade, vor allem weil die Konkurrenz in den USA sehr schnell auf den Füßen ist und gut laufende Produkte sehr schnell adaptiert. Man muss sich vorab also schon mit dem jeweiligen Land und dem Potenzial auseinandersetzen, mit Statistiken ein Gefühl für die möglichen Absatzmengen bekommen – und dann eher in die Vollen gehen als zu vorsichtig agieren.
Wer den ersten Schritt gewagt und sich für den internationalen Verkauf registriert hat, für den zahlt sich diese Investition oft schon innerhalb kürzester Zeit aus. So konnte die Firma Boxine Ende 2020 einen erfolgreichen Start ihres Audiosystems Toniebox in den USA unter anderem durch den Verkauf über Amazon.com erreichen.
Logistikkapazitäten wurden gesteigert
"In die Vollen" können Händler aber nur gehen, wenn ihnen in den FBA-Lagern genug Platz eingeräumt wird. Wo steht die Amazon-Logistik nach dem letzten anstrengenden Jahr?
Kimmeyer: Wir haben hart daran gearbeitet, die nötigen Kapazitäten aufzubauen. 2020 hat Amazon allein in Europa 2,8 Milliarden Euro in Logistik, Tools, Dienstleistungen, Programme und Schulungen investiert. Weltweit wurden die Logistikkapazitäten in den vergangenen zwei Jahren sogar um 50 Prozent gesteigert. Davon haben die Verkaufspartner stark profitiert. Zudem haben wir die Lagereffizienz verbessert, damit alle entsprechenden Verkaufspartner Platz für ihre Produkte finden. Die Auffüllbeschränkungen haben wir für die Verkaufspartner bei Versand durch Amazon stark reduziert und planen Stand heute, dies im kommenden Jahr weiter fortzuführen.
Bleiben noch die weltweite Logistik-Krise und die Rekordpreise für Container…
Kimmeyer: Ja, Logistik ist beim internationalen Versand natürlich ein Dauerbrenner. Auch da bieten wir aber mit Amazon Global Logistics Lösungen an, mit denen man beispielsweise direkt aus der Produktion in Asien nach Europa oder in die USA verschicken kann - da können wir über Skaleneffekte bessere Konditionen mit den Logistik-Unternehmen erreichen. Trotzdem ist die internationale Logistik-Krise ein großes Thema für global aufgestellte KMU. Manche unserer Verkaufspartner haben deshalb mittlerweile ihre Produktion in ihre wichtigsten Absatzländer verlegt - um Logistikkosten zu sparen.
Amazon Marketplace in den Vereinigten Arabischen Emiraten
Wie kann sich das auswirken?
Kimmeyer: Setzt man die Bedeutung des Komplexes Logistik höher an, können Länder, die man bisher nicht auf dem Zettel hatte, plötzlich sehr interessant werden. Nehmen wir den noch relativ jungen Amazon Marketplace in den Vereinigten Arabischen Emiraten: Das ist ein attraktiver Store in einem sehr E-Commerce-affinen Gebiet, auf dem der Wettbewerb noch nicht so intensiv ist wie auf etablierten Marketplaces. Und der Mittlere Osten ist geografisch deutlich näher als zum Beispiel die USA. Aber auch entlegenere Länder wie Australien und Japan können spannend sein - wenn die eigene Produktion in Asien liegt und die Waren direkt aus der Produktion in ein Logistikzentrum für den Versand durch Amazon vor Ort geschickt werden.
Welche anderen Entscheidungskriterien spielen noch eine Rolle bei der Auswahl eines neuen Ländermarkts?
Kimmeyer: Natürlich steht an oberster Stelle das Umsatzpotenzial in der eigenen Produktkategorie: Wie groß ist das Land, wie hoch ist die E-Commerce-Durchdringung? Wie umkämpft ist die eigene Kategorie, können die eigenen Produkte eine nicht besetzte Nische füllen? Welche Stellung hat der Amazon Marketplace im örtlichen E-Commerce?
Gute Nischen finden
Welche Rolle spielen dann bei solchen Überlegungen Amazon-Marktplätze, die in ihrem Land nicht der größte Fisch im Teich sind - zum Beispiel die Dependancen in den Niederlanden oder in Polen?
Kimmeyer: Ich weiß, dass deutsche Verkaufspartner, die es gewohnt sind, auf Amazon.de zu verkaufen, von den Umsätzen in kleineren Stores manchmal enttäuscht sein können. Aber auch dort kann man gute Nischen finden, seinen Umsatz langsamer und dafür nachhaltiger aufbauen und so das Geschäftsrisiko breiter auf mehrere Standbeine verteilen. Ein guter Hinweis für funktionierende Nischen in einzelnen Ländern kann übrigens ein Blick auf die Bestellhistorie sein: Zunächst "Kauf meiner Produkte durch Amazon für den weltweiten Verkauf" freischalten - wenn dann schon einige Bestellungen von Kunden aus einem bestimmten Land bei einem Verkaufspartner ohne weiteres aktives Zutun eingetrudelt sind, kann es sich lohnen dieses Land genauer unter die Lupe zu nehmen. Denn offensichtlich gibt es dort eine Nachfrage nach den eigenen Produkten.
Was möchten Sie Händlern, die international verkaufen wollen, noch mitgeben?
Kimmeyer: Es war noch nie so einfach, international zu verkaufen. Der Kostenaufwand ist so niedrig wie noch nie, die Komplexität auch, die Wettbewerbsunterschiede zu anderen Unternehmen, egal welcher Größe, gering - und das Umsatzpotenzial ist enorm. Man muss es einfach wagen!
Jeden Tag die wichtigsten Meldungen aus dem nationalen und internationalen Online-Handel lesen? Dann holt euch die W&V Commerce Shots in eure Inbox. -> Meldet euch gleich an ...
Ihr wollt noch tiefer in das Thema Commerce eintauchen? Dann findet ihr hier alle Ausgaben des Magazins der INTERNET WORLD. Ganz einfach als PDF zum Download - kostenfrei für alle W&V-Member. -> Der Deep Dive exklusiv für euch.