Abgesehen davon: Gab es Arbeiten, die Sie im Hinblick auf Cannes bislang besonders bemerkenswert fanden?

Tutssel: Es gibt da ja zwei Strategien. Entweder, Sie halten alles zurück bis Cannes und setzen auf den Überraschungseffekt, oder Sie zeigen vorher alles jedem. Beides kann funktionieren. Normalerweise fördert der Superbowl immer ein paar Arbeiten zutage. Dieses Jahr war der Werbeblock absolut enttäuschend. Genau genommen war es das schlimmste Jahr in der Superbowl-Geschichte. Ich habe in meinem Leben noch nie so viel durchschnittliche Kampagnen gesehen wie dort. Und das, obwohl es das Traum-Briefing eines jeden Kreativen sein muss, dort einen Spot schalten zu dürfen. Vorletztes Jahr war es der Darth-Vader-Spot für Volkswagen, der wie ein Lauffeuer um die Welt ging. Dieses Jahr haben wir nichts. Absolut gar nichts.

Sie sprechen hier mit Ihren Kreativen über Ideen. Wie sehen Sie Ihre Rolle im Ideenfindungsprozess bei Leo Burnett?

Tutssel: Ich sehe mich als den Bewahrer der Qualität unserer Kreativität. Als jemanden, der als Kompass für die Firma fungiert. Es ist wichtig, dass ich die Arbeit permanent kritisiere. Meine Leute bereitet das vor. Sie lernen, wie man Arbeit wirklich kritisiert, wie man die wirklich wichtigen Fragen über das kreative Denken stellt. Ich pflege Austausch und Kontakt. Sage meinem deutschen Kreativchef Andreas Pauli zum Beispiel, er soll mir seine Arbeiten schicken, bevor sie in Produktion gehen. Ich führe mit ihm Gespräche über seine wichtigsten Projekte, an denen er arbeitet, wie die für die Reifenhersteller Dunlop oder Goodyear.

Steht Leo Burnett in Deutschland gut da?

Tutssel: Deutschland ist ein extrem wichtiger Markt für uns, ist es schon immer gewesen. Denken Sie an meinen Vorgänger Michael Conrad, eine Größe in der deutschen Werbelandschaft. Wir hatten schon immer eine unglaubliche kreative Präsenz hier. Aber vor Kurzem haben wir trotzdem die Dynamik in Westeuropa geändert und arbeiten jetzt in einem grenzbefreiteren, mehr Open-Source getriebenen Raum. Wir fassen die Büros in Berlin, Zürich, Lissabon, Madrid und so weiter zu einem zusammen.

Gehen Sie auf Konsolidierungskurs, um schwächelnde Büros zu entlasten?

Tutssel: Nein, ich mache das, weil ich denke, dass es uns eine breitere Basis für Talente gibt, die wir nutzen können. Wir können Teams rund um Projekte zusammenstellen, können gutes Denken und gutes Handeln verbinden. Natürlich teilen die Büros auch Marken. Fiat zum Beispiel betreuen wir in vielen Ländern. Der Autohersteller denkt aber nicht in Märkten, sondern in Regionen.

Auch wenn Sie damit Last von den Schultern der deutschen Niederlassungen nehmen, Sie haben Ihre Firma hier trotzdem umgebaut.

Tutssel: Wir haben neue Maßstäbe gesetzt und der Marke einen neuen Sinn gegeben. Früher waren die deutschen Büros von multinationalen Marken abhängig, jetzt liegt der Fokus auf nationalen Marken. Wenn Sie sich die letzten Neugeschäfte mal ansehen, macht mich das stolz: Dunlop und Goodyear, Samsung. Wir haben eine neu spezialisierte Designagentur hier in Berlin eröffnet. Und, das Wichtigste für mich, sind die, wie ich Sie nenne "3 A's": Meine deutschen Manager Andrea Albrecht, Andreas Pauli und Andreas Läufer (ECD des Berliner Büros, Anm. d. Red.). Sie arbeiten seit zwei Jahren toll zusammen und verfolgen dieselben Ziele wie ich.

... und die wären?

Tutssel: Meine sind sehr sehr einfach gefasst und lauten erstens, in den nächsten zwei, drei Jahren unter den Top-5 der kreativsten deutschen Agenturen zu landen und ein gesundes Neugeschäftswachstum zu haben. Da ist es mir auch wert, in unsere langfristige Gesundheit zu investieren, in neues Denken, in Mobile-Experten, in Social-Media-Konzepte. Deutschland ist noch immer eine der heißesten Adressen für Kreativität in der Welt und hat tolle Agenturen.

An wen denken Sie da?

Tutssel: Ich bin großer Fan von Jung von Matt. Serviceplan hat in den vergangenen Jahren auch immer wieder interessante Arbeiten gemacht. DDB Tribal dank Volkswagen. Ja, da gibt es einige. Ich glaube, Leo Burnett kann auch dahin gelangen.

Internationale Networks haben es abgesehen von ein paar Ausnahmen im deutschen Markt momentan nicht leicht. Sie glauben trotzdem, dass Sie konkurrieren können?

Tutssel: Wenn Sie sich die Arbeiten aus dem vergangenen Jahr mal ansehen: Es gab in Deutschland tolle Arbeiten für Mercedes-Benz. Der Solar-Jahresbericht von Serviceplan war eine nette Idee. Aber ich suche nach den ganz großen Plattformen, an denen sich die Verbraucher beteiligen können. Für Samsung zum Beispiel, oder Dunlop oder Goodyear. Nach etwas, das ich "Game-Changing-Thinking" nenne und das die Gesellschaft wirklich beeinflusst und soziale Relevanz für die Menschen hat. Ja, die Arbeit hier hat gerade erst begonnen. Wenn Sie mich in zwölf Monaten noch mal fragen, habe ich hoffentlich Ergebnisse und Arbeiten dazu.

Sie gehören zu den meistausgezeichneten Werbern der Welt. Was macht denn einen guten Kreativen aus?

Tutssel: Die Neugierde auf das Leben, würde ich sagen. Genau genommen entsteht Kreativität erst mit der richtigen Zusammenstellung von Teams. Ich brauche Leute, denen der unstillbare Hunger nach Ideen nicht abhanden kommt. Es geht immer nur ums Casten der richtigen Leute. Die können mittlerweile aus allen möglichen Disziplinen kommen und müssen keine originären Werber sein. Werbung konkurriert heute nicht mehr mit anderer Werbung. Werbung konkurriert mit der Populärkultur.

Und was ist dann gute Werbung?

Tutssel: Eine, die es schafft, Einfluss auf das Leben der Menschen zu nehmen und Verhalten und Sichtweisen verändert. Ich glaube leidenschaftlich daran, dass Kreativität das menschliche Verhalten ändern kann und das Kreativität heute das kraftvollste Werkzeug in der Wirtschaft ist.

Mark Tutsell ist globaler CCO der Networkagentur Leo Burnett. Die Agentur gehört zur französischen Publicis-Gruppe und unterhält 96 Büros auf der ganzen Welt. Gut 9.000 Mitarbeiter arbeiten für Kunden wie Fiat, Procter & Gamble und McDonald's. Wie Tutssel seine Kreativen anhält, gute Ideen zu entwickeln, lesen Sie in der aktuellen W&V-Printausgabe (Heft 10/2013 vom 4. März).  


Autor: Daniela Strasser

Redakteurin bei W&V. Interessiert sich für alles, was mit Marken, Agenturen, Kreation und deren Entwicklung zu tun hat. Außerdem schreibt sie für die Süddeutsche Zeitung. Neuerdings sorgt sie auch für Audioformate: In ihrem W&V-Podcast "Markenmenschen" spricht sie mit Marketingchefs und Media-Verantwortlichen über deren Karrieren.