Stephan Sonnenburg, Professor für Kreativitätsforschung an der Karlshochschule.

Kann ich sonst noch etwas fürs kreative Aufwärmen tun?

Ich möchte aber noch einen Schritt weitergehen. Da Kreativität nicht nur ein Gehirn- und Bewusstseinsphänomen, sondern auch unser Körper an Kreativität beteiligt ist, empfehle ich Aufwärmübungen, die Körper und Geist ansprechen. Neben der Meditation bietet sich auch Lego als eine aktivere Form des Aufwärmens von Geist und Körper an.

Mit einigen Kollegen klappt die Verständigung blind, mit anderen wird jedes Brainstorming zu einem zähen Kraftakt. Gibt es so etwas wie Kreativ-Typen, die besonders gut harmonieren? 

Aus meiner Erfahrung heraus würde ich nicht von bestimmten Kreativ-Typen sprechen wollen, die grundsätzlich gut miteinander harmonieren. Es hängt viel stärker davon ab, ob z.B. im Kontext eines Brainstormings die Aufgabenstellung oder das Problem motiviert. Wer nicht zumindest ansatzweise intrinsisch motiviert ist, wird bewusst oder unbewusst dazu beitragen, dass das Brainstorming zäh abläuft. Hinzu kommt, dass alle Teilnehmer in einer kreativen Stimmung sein müssen, damit Gruppenflow entsteht. Dazu bietet sich genau das an, was ich zuvor zum Aufwärmen gesagt habe. Gerade das gemeinsame Meditieren oder Legobauen erzeugt einen kreativen Gruppenflow, der für das optimale Ausschöpfen des kreativen Potenzials bedeutend ist.

Ermutigung, Freiraum, eine anregende Umgebung – was muss ein Chef daneben noch bieten, damit seine Mitarbeiter ihr volles kreatives Potenzial ausschöpfen?

Eine wesentliche Aufgabe ist es, immer wiederkehrende Denkblockaden wie "Es ist schwer, Ideen zu entwickeln", "Ich bin heute nicht kreativ", "In Gegenwart der Kollegen kann ich keine Ideen entwickeln" zu lösen. Ermutigung und Unterstützung sind hier entscheidend. Darüber hinaus sollte eine Ideen- und Kreativkultur im Unternehmen aufgebaut werden, die das kreative Bewusstsein der Mitarbeiter schärft und vor allem Ideensituationen stimuliert.

Vier Kreativkulturdimensionen möchte ich hervorheben: (1) weitreichende Autonomie für die Mitarbeiter, (2) tiefes Vertrauen in die Fähigkeiten der Mitarbeiter, (3) flexibles Arbeiten, vor allem in Bezug auf das Wo und Wann des Arbeitens, (4) wertschätzender Teamzusammenhalt. An diesen Kreativkulturdimensionen sollten Chefs kontinuierlich und ernsthaft arbeiten, so dass sie mehr sind als bloßes Lippenbekenntnis.

Und nicht zu vergessen: Ein Chef sollte sich für eine Kultur der Toleranz gegenüber Misserfolgen einsetzen, die den Mitarbeiten signalisiert, dass sie Ideenwagnisse eingehen können, die auch nicht erfolgreich sein können. Gerade ein frühes Scheitern im Kreativprozess ist wie ein Weckruf und fördert nachhaltig die Ideenqualität und Ideenvielfalt.

Grünkohl-Nachmittage, ein eigenes Schwimmbad, ein Hauskino, ein Gadget-Raum – die Agenturen überbieten sich gerade mit coolen Ablenkungsmöglichkeiten für ihre Mitarbeiter. Hat sowas wirklich Einfluss auf den Output?

Dies kann einen enormen Einfluss auf den kreativen Output haben. Ich würde weniger von Ablenkungsmöglichkeiten, sondern von Möglichkeiten der Inkubation sprechen wollen. Es ist wichtig, dass Mitarbeiter auch während der Arbeitszeit kreativ entspannen können. Gerade in diesen Momenten entstehen häufig die besten Ideen. Bei den Entspannungsangeboten ist darauf zu achten, einen guten Mix aus Gruppenentspannung, also z.B. gemeinsames Klettern an der Wand, und Einzelentspannung, z.B. im Hauskino, zu ermöglichen.

Nun kann sich nicht jede Agentur gleich Schwimmbäder und Kletterwände leisten. Deshalb möchte ich anregen, bereits existierende Räume noch mehr zu Inkubationsbereichen weiterzuentwickeln. Gerade der oft lieblos gestaltete Bereich rund um die Espressomaschine ist ein guter Startpunkt für mehr ablenkende Anregung und Förderung von kreativer Inkubation.

Wie kann ich die Kreativität eines Mitarbeiters eigentlich testen, bzw. messen? Gibt es jenseits der subjektiven Einschätzung so etwas wie eine Formel, mit der man das Ausmaß innovativen Denkens ausmachen kann?

Innerhalb der Kreativitätsforschung versuchen gerade Psychologen Kreativität mit Testverfahren zu erfassen. Das Messen von Kreativität ist letztendlich eine Glaubensfrage und hängt davon ab, was unter Kreativität verstanden wird. Ehrlich gesagt, halte ich hiervon nicht sehr viel. Vor allem auch deshalb, weil ich Kreativität als ein unerschöpfliches Potenzial im und zwischen Menschen betrachte, das klug und würdig im Rahmen einer bestimmten Problemstellung gefördert werden sollte.

Der größte Wurf entsteht oft ja nicht am Schreibtisch, sondern in der freien Natur, im eigenen Badezimmer, beim Einschlafen. Warum ist das so? Ist die Zeit am Schreibtisch für den kreativen Prozess zur Materialsammlung vielleicht trotzdem wichtig? 

Diese Frage verstärkt noch einmal das Thema der Ablenkungsmöglichkeiten. Häufig entstehen Ideen in einer Phase der Inkubation, also einer Situation, in der man sich nicht bewusst mit der Problemstellung und den bereits entwickelnden ersten Ideen beschäftigt, aber sie dennoch in sich trägt. Und plötzlich ist der Moment des Aha oder Heureka da. Aber ein solcher Moment muss vorbereitet werden, er kann sogar bis zu einem gewissen Grad erzwungen werden. Aus dem Nichts entsteht auch Nichts in der freien Natur, im Badezimmer oder auf dem Laufband. Zuerst bedarf es der intensiven Auseinandersetzung mit der Problemstellung. Wer keine Kennerschaft in Bezug auf das Problem mit all seinen Facetten aufbaut, wird kaum einen Aha-Moment in einer Phase der Inkubation erleben. Deshalb rate ich auch dazu, sich nach dem Einsatz von Kreativitätstechniken und der Entwicklung von ersten Ideen vom Projekt zu lösen und die Ideen einfach einmal wirken zu lassen. Somit gibt man diesen ersten Ideen die Chance, zu Aha-Ideen heranzureifen.

Oder ganz ketzerisch gefragt: Sollte ein Kreativer nicht besser ganz woanders arbeiten als im Büro?

Im für ihn richtigen Moment sollte ein Kreativer bestimmt woanders arbeiten.


Autor: Anja Janotta

seit 1998 bei der W&V - ist die wohl dienstälteste Onlinerin des Hauses. Am liebsten führt sie Interviews – quer durch die ganze Branche. Neben Kreativ- und Karrierethemen schreibt sie ab und zu was völlig anderes - Kinderbücher. Eines davon dreht sich um ein paar nerdige Möchtegern-Influencer.