Ich würde es theoretisch erklären. Die Zeiten sind vorbei, wo man Kästchen füllt. Also nach dem Motto: Ich habe hier eine Stelle und dafür suche ich jetzt jemanden. Wir lassen heute nicht mehr die Stelle den Job bestimmen, sondern das Talent. Bei einer Einstellung gilt es also eher zu überlegen, wie man das Talent in einer Organisationsstruktur so unterbringt, dass es den Wirkungsgrad entfaltet, welches es verspricht. Nicht nur die Agenturen können von diesem Ansatz profitieren, sondern grundsätzlich alle Unternehmen. Dazu müssen wir uns alle verändern, wir müssen fördern statt fordern, befähigen statt bevormunden.

Früher waren flache Hierarchien, Duzen mit dem Chef und ein kreatives Arbeitsumfeld das, womit Agenturen punkten konnten - nun scheint die Digitalbranche das alles noch zu toppen: Urlaub nach Wunsch, agile Modelle, Homeoffice, Sabbaticals etc. Da hält die Agenturbranche eher hechelnd mit. Mit welchem USP kann die Branche eigentlich noch locken?

Die Jungen wollen stark an der Exekution beteiligt sein. Wenn unsere Digitalen in Berlin etwas kreieren und nach vier Wochen noch kein messbares Erlebnis spürbar ist oder die App oder ein Viral noch nicht live sind, ticken sie vor Ungeduld aus. Umgekehrt wird ein Viral bei ausbleibenden Klicks solange verändert, bis er fliegt. Gerade in der Schnelligkeit und in der Wirksamkeit sind wir Agenturen immer noch die Lead-Branche. In Unternehmensberatungen sind eher Papiertiger gefragt, bei uns hingegen sieht man die direkte Wirkung des Arbeitens. Das ist ja auch etwas sehr Befriedigendes und ist das beste Förderprogramm.

Und das goutiert dann auch der Kunde?

Tatsächlich zahlt der Kunde eher noch das 'Kästchen', von dem wir vorher gesprochen haben. Die Preisdiskussion zu führen, ist eine notwendige Aufgabe von uns Managern und Geschäftsführern. Aber es ist doch so: Wenn wir mehr Raum zum atmen haben und besser für die gelieferte Qualität bezahlt werden, sind wir umgekehrt auch für die entsprechenden Mitarbeiter attraktiv. 

Wenn Sie sagen: Das Talent muss den Job bestimmen, nicht die Stellenbeschreibung, dann ist agiles Arbeiten auch bei Saatchi ein Thema?

Wir definieren Talentpools mit Leuten, die etwas besonders gut können. Zur Koordination setzen wir die klassische 'Trafficerin' ein, die jeden Tag dafür sorgt, dass die richtigen Mitarbeiter für spezifische Aufgaben eingeteilt werden. Das macht sie auf Monats-, Wochen- und Tagesbasis. Bislang geht das mit vielen, vielen Post-its. Aber wir planen demnächst diesen Prozess mit verschiedenen Projektmanagement-Tools zu institutionalisieren.

Nun gibt es auch im Agenturalltag Jobs, die nicht so attraktiv sind, die nicht so viel Wirksamkeit entfalten, die aber dennoch getan werden müssen. Wie motivieren sie das Team?

Ich war im Sommer im Silicon Valley bei Google und diskutierte mit Google-Mitarbeitern über das Konzept "80 Prozent fest verplant – 20 Prozent freie Arbeitszeit". Auch wenn das dort offenbar nicht immer klappt, ist die Idee an sich gut. Daher versuchen wir für jeden Einzelnen – und manchmal auch für die ganze Agentur – Projekte einzuschieben, die der Erfüllung der eigenen Bedürfnisse entsprechen. 
Ein Beispiel: Wir hatten dieses Jahr durch große Kundengewinne und einige Umstrukturierungen viel Dynamik in der Agentur. Deshalb haben wir es gewagt, die Agentur eine Woche lang für eine Ideas-Academy zu schließen. In dieser Zeit beschäftigten wir uns mit vier realen "Nüssen", die unsere Kunden allein nicht geknackt bekommen hatten. So übten wir, wo und wie wir unsere Prozesse verbessern und unsere Ideengenerierung optimieren können – als Gesamtagentur. Für die verschiedenen Phasen der Ideas-Academy luden wir zudem inspirierende Menschen ein, die ihre Perspektiven und Gedanken einbrachten – von Music-Festival-Organisatoren bis hin zu Impro-Theater-Schauspielern. Künftig werden wir jedes Jahr eine Woche für die Ideas-Academy reservieren. 

Wenn man aber nun talentzentriert arbeitet, wie Sie das eingeführt haben - wie kann man das Arbeitsleben dann dennoch strukturieren? Die Charaktere und die Aufgaben sind ja doch sehr unterschiedlich – sind fixe Karrierepläne, regelmäßige Feedbackrunden, Jahresgespräche in diesem Zuge dann Instrumente von gestern?

Doch, die gibt es. Im Januar werden wir ein neues Mitarbeiterbefragungstool ausrollen. Jeder Mitarbeiter wird dann von seinem direkten Umfeld bewertet – von seinen Vorgesetzten, den Kollegen und den Menschen in der Hierarchie unter ihm. Je Mitarbeiter sollen immer mindestens 10 Bewertungen eingeholt werden, um nicht zuletzt Anonymität zu gewährleisten.  So entstehen 360-Grad-Profile jedes Mitarbeiters, aus denen ganz konkrete Handlungsfelder und Maßnahmen abgeleitet werden. Diese Befragungen finden dann zwei bis drei Mal jährlich statt, so dass man zeitnah Feedback bekommt und die Entwicklungen sieht.

Wie kommt das Vorhaben bei Saatchi intern an? Gegen die Bewertungen könnte es ja durchaus Vorbehalte geben.

Wir werden es so machen, dass ich mich als Erster bewerten lasse. Das genaue Prozedere besprechen wir aktuell mit unseren Betriebsräten. Themen wie Anonymität und welche Kollegen Zugang zu den Ergebnissen haben dürfen, stehen dabei im Vordergrund. Aber: Wir leben nun mal in einer Feedback-Gesellschaft und in einer Sharing-Economy. Unsere Mitarbeiter sind es gewohnt, dass anderswo der Daumen hoch oder runter geht. Und da bin ich jetzt mal Chef: Ich will, dass Feedback zu unserer Kultur gehört, dass wir eine angstfreie Kultur haben. Und wenn in diesem Zuge einmal etwas Negatives aufploppt, sollten wir das als Chance sehen.

Sind Kletterwände oder andere Agentur-Spielplätze überhaupt ein Thema für Saatchi?

Das sind doch Ablenkungen, die die Wahrnehmung nicht dominieren sollten. Wir müssen das, wofür wir bezahlt werden, bestmöglich machen. Eine Dartscheibe, ein Flipper und Kicker im Zimmer – alles nur, wenn auch zugegebener Maßen, nette Spielereien. So etwas muss organisch aus den Wünschen der Mitarbeiter entstehen. Eine Kletterwand oder ähnliches ist zudem nur ein Aushängeschild der Fancyness einer Agentur, sie sagen aber nichts über die Unternehmenskultur aus, auf die es wirklich ankommt. Da ist ein flexibles Arbeitszeitmodell für unsere Mütter immer noch aussagekräftiger. Oder, dass wir Arbeitszeiten nach 18 Uhr und am Wochenende in Urlaub ummünzen. Aber auch damit werde ich nicht offensiv werben. Ich will doch zuallererst, dass die Leute, die zu uns kommen, Spaß am Job haben und hier ihre Erfüllung finden.

Schließlich muss aber die Unternehmenskultur auch vor Abwanderung schützen. Wie steht es mit Ihrer Fluktuation?

Der Saatchi-Fall ist ziemlich speziell. Wir hatten in der Vergangenheit sehr wenig Fluktuation, das hat sich aber geändert. Dadurch, dass sich die Agentur im letzten Jahr grunderneuert hat und wir Standorte konsolidieren mussten, sind plötzlich die Headhunter gekommen und mischen bis heute kräftig mit. Besonders auf dem Düsseldorfer Markt spitzt sich das gerade zu, weil mittlerweile alle großen Handelskonzerne in Düsseldorf werblich betreut werden. Daneben ist Havas groß geworden, hat sich Grey gut entwickelt, BBDO geht ab, Ogilvy macht einen super Job und TBWA hat mit Heimat Rückenwind bekommen. An diesem Standort ist so viel Dynamik entstanden, dass wir ein Recruiting-Problem haben. Deshalb müssen wir ein Stück weit in den Preiskampf gehen. Wir haben ein paar tolle Leute verloren, aber zum Glück auch ein paar tolle Leute gewonnen.

Bei welchen Berufsfeldern ist die Situationen besonders schwierig?

Da gibt es unterschiedliche Problemfelder. Aber der klassischste aller Berufe, der Texter, ist gerade ganz schwer zu besetzen – besonders im Senior-Bereich. Wir haben von drei Positionen in diesem Jahr gerade mal eine besetzen können. Das ist ein schwieriger Markt – hier herrscht in Düsseldorf wirklich eine Lücke.

Sie sind ja auch im GWA für den Nachwuchs zuständig. Ist diese Lücke im Textermarkt prinzipiell bei allen Agenturen spürbar?

Der Texter ist systemkritisch. Wenn der nicht da ist, dann läuft der ganze Laden nicht. Ohne Text funktioniert auch keine digitale Kampagne. Allerdings wird das Digitalisierungsthema heute viel lauter gespielt, daher gerät das Texterproblem eher in den Hintergrund.

Der BVDW oder der Bitkom haben das Problem des fehlenden digitalen Nachwuchses ja auch immer lautstark thematisiert.

Auf Verbandsebene versuchen wir Formate zu spielen, die uns für den Nachwuchs attraktiver machen. Es gibt das GWA-Format Ad Day/Ad Night in Stuttgart, München etc., wo wir als GWA-Agenturen und -Freunde gemeinsam mit der regionalen Wirtschaftsförderung den Nachwuchs gezielt ansprechen. Dort bieten wir Speed-Dating und Lehrgänge sowie eine Party am Abend an. Zudem können wir eine direkte Verbindung zu den Agenturen herstellen. In München waren es zuletzt 400 Personen, die die Veranstaltung besuchten. Düsseldorf wird 2017 ebenfalls das Format launchen.

Was plant der GWA als Verband noch an Nachwuchs-Maßnahmen?

Wir haben tatsächlich einen Flickenteppich an Maßnahmen und müssen diese nun an einer Stelle bündeln – am besten netz-zentrisch unter einer Marke. Der Nachwuchs muss klar erkennen, dass er beim GWA Berufsbeschreibungen, offene Stellen, Gehaltsinfos, Agenturaussagen, Fortbildungsangebote etc. bekommt. Das kommt in Q1 2017. 

Und wie erreichen Sie vordringlich die jungen Kreativen für Ihre Agentur? Welche Wege gehen Sie da?

Ganz klar, wir müssen verstärkt über Social Media gehen. Die Jungen schreiben uns über Facebook, Twitter etc. an – und über diese Kanäle müssen wir auch den Kontakt halten.

Xing, LinkedIn – sind keine Recruiting-Plattformen für Sie?

Doch. Ich darf ja bei LinkedIn als Influencer schreiben, aber hier findet man vorwiegend international ausgerichtete Accounter. Bei Xing hingegen haben wir über die gesamte Breite einen größeren Austausch. Da recherchieren wir und dort schreiben wir auch gezielt Talente an, die uns aufgefallen sind.

Welche kreativen Wege muss man heute noch gehen, um an den Nachwuchs heranzukommen?

Wir haben uns zum Beispiel an einer aktuellen Social Media Aktion, der Mannequin-Challenge, beteiligt. So konnten wir auf originelle Weise die Agentur vorstellen und die Agenturräume zeigen. Unser Video erzielte eine gute Reichweite. Die Idee und das Script kamen von den Agenturmitarbeitern selbst. Ich habe auch mitgemacht.

(Anm. d. Redaktion: Christian Rätsch hängt dabei mit verdrehten Augen an einem Nagelbrett „Nothing is impossible“)

 


Autor: Anja Janotta

seit 1998 bei der W&V - ist die wohl dienstälteste Onlinerin des Hauses. Am liebsten führt sie Interviews – quer durch die ganze Branche. Neben Kreativ- und Karrierethemen schreibt sie ab und zu was völlig anderes - Kinderbücher. Eines davon dreht sich um ein paar nerdige Möchtegern-Influencer.