Was meinen Sie? Ist die elektrische, vollvernetzte Zahnbürste jetzt auschließlich ein Plus für die Mundhygiene? Oder ein Upselling-Trick der Industrie, damit Menschen für ihre Zahnbürste statt 3 Euro künftig etwa 150 Euro ausgeben? Oder als Produkt lediglich der Einstieg in eine personalisierte Versicherungswelt, in der Versicherer die Policen und/oder Leistungen an das Verhalten ihrer Kunden koppeln? Suchen Sie sich aus, was Ihnen gefällt. Aber denken Sie nicht, dass diese Entwicklung bei ihren Zähnen halt macht.

So zeigen beispielsweise Statistiken der Versicherer aus den USA, dass nach Jahren rückläufiger Zahlen die Unfälle seit einiger Zeit wieder zunehmen. Die Ursache: Das Smartphone. Angeblich nutzen 88 Prozent der Fahrer ihr Smartphone, während sie selbst am Steuer sitzen – und das während einem Fünftel der Fahrzeit, so die Macher der amerikanischen App Mojo. 71 Prozent der Fahrer tippen demnach sogar Texte, während sie fahren. Und weil das Smartphone nicht nur das Problem, sondern auch die Lösung sein soll, erhebt Mojo (die App soll demnächst auch nach Europa kommen) via Handy das Fahrverhalten.

Wie schnell beschleunigt der Fahrer? Wie stark bremst er? Wie schnell fährt er? Hält er sich an Verkehrsregeln und vieles mehr? Das Ergebnis präsentiert die App in Form eines Rankings mit Score, in dem sich die Fahrer mit anderen messen und vergleichen können. Und die Daten – Sie ahnen es – könnten natürlich interessant sein für die KFZ-Versicherer, die den Tarif der Aggressivität oder Passivität der Fahrweise entsprechend anpassen könnten. Allein die Tatsache, dass die App das Fahrverhalten und die Smartphone-Nutzung misst, soll nach Angaben der Mojo-Macher dazu führen, dass drei Viertel der Fahrer sich weniger ablenken lassen.

Das waren nur zwei von insgesamt über 50 Beispielen aus der Welt des Digital Healthcare- und InsurTech-Business, die Mitte Mai auf der „Digital Insurance Agenda 2017 (DIA)“ in Amsterdam präsentiert wurden. Die wichtigste globale Konferenz für die digitale Transformation der Versicherungsbranche präsentierte viele technische Lösungen, von denen der Abschluss einer Versicherung via Smartphone oder Facebook Messenger Chatbot innerhalb weniger Minuten, die am wenigsten spektakulären waren.

Die Konferenz zeigte nämlich: Sowohl InsurTechs als auch Versicherern ist es bewusst, dass die neuesten technischen Errungenschaften nichts nützen, wenn es ihnen nicht gelingt, den Kunden dafür zu gewinnen. Deshalb setzen die meisten Lösungen im Kern auf einen Dreiklang: Messen, Monitoren, Motivieren.

Das Messen übernehmen in der Regel das Smartphone und andere Tracker. Das Monitoren und Auswerten der Daten kann nahezu in Echtzeit – auch mit Zuhilfenahme künstlicher Intelligenz - in der großen Cloud erfolgen. Die größte Hürde ist das Motivieren. Warum soll sich beispielsweise ein Autofahrer freiwillig darauf einlassen, dass seine Fahrweise komplett kontrolliert wird? Warum soll das Mitglied einer Krankenversicherung die Daten seines Schrittzählers oder Fitnesstrackers preisgeben?

Niedrigere Tarife als Belohnung für "vernünftiges/gesundes" Verhalten sind dabei nur ein Aspekt. Insbesondere die InsurTechs haben verstanden, dass die Belohnung darüber hinaus gehen muss. Vielleicht stellt die private Zahnzusatzversicherung künftig Elektrozahnbürsten. Und vielleicht zahlt die Krankenversicherung bald einen Teil des Fitnessstudios, wenn das Mitglied seine Besuche regelmäßig aufzeichnen lässt. Zusätzlich wichtig ist jedoch der "Gamification"-Aspekt, also die spielerische Note beim Erheben der Daten, der Vergleich mit anderen und die Möglichkeit zur Selbstoptimierung. Nur ein Beispiel dafür ist der "Gesundheitsindex" der Health-App Dacadoo.

Die Versicherer wissen auch, dass es im ersten Schritt in der Regel vor allem die gesunden bzw. am wenigsten risikobehafteten Zielgruppen sind, die bereit sind, für personalisierte, meist niedrigere Tarife oder bessere Leistungen die eigenen Daten preiszugeben. Die große Masse an Kunden, Mitgliedern und Patienten mit all ihren großen und kleinen Schwächen zur Teilnahme an getrackten Programmen zu bewegen, ist die – im Vergleich zur Technologie – wesentlich größere Herausforderung. Denn wenn es bessere Tarife für "gesundes/vernünftiges" Verhalten gibt, müssen im Umkehrschluss die, die sich weniger an vorgegebene Verhaltensregeln halten, dann mehr zahlen?

Eine Frage, die die Branche in diesem Stadium des Marktes natürlich ungern beantworten will. In anderer Hinsicht, das zeigt die DIA deutlich, haben die InsurTechs auf jeden Fall schon gelernt. Statt am Anfang allzusehr auf Konfrontation zu den etablierten Playern zu gehen (wie es viele FinTechs gemacht haben), setzen die meisten Startups im Versicherungsbereich auf Kooperation. Entweder sie bieten Technologie und Prozesse als B2B-Lösung an, die das Geschäft der Versicherer vereinfachen und beschleunigen. Oder sie stellen den etablierten Konzernen sogar Whitelabel-Produkte, die diese in ihre Infrastruktur integrieren können. Scheinbar haben die InsurTechs von den FinTechs gelernt, dass der Aufbau einer Marke für Endkonsumenten langwierig, teuer und mühsam ist. Und weil starke Marken beim Verbraucher über einen großen Vertrauensvorschuss verfügen, bieten uns ja vielleicht Philips, Braun & Co. demnächst auch gleich Zahnzusatzversicherungen zur Zahnbürste an.

Christian Faltin ist einer der "Digital Leader", eine feste Gruppe von Bloggern, die ihre Meinungen und Kommentare via LEAD digital verbreitet. Mehr zum Autor und den weiteren Mitgliedern der "Digital Leader" lesen Sie hier auf der Übersichtsseite.


Autor: Christian Faltin

Christian Faltin ist Gründer und Geschäftsführer von Cocodibu. Die PR-Agentur mit Sitz in München hat sich seit 2007 auf "Kommunikation für die digitale Wirtschaft und Gesellschaft" spezialisiert. Der gelernte Journalist verabscheut Buzzwords und ist auch Initiator des Onlineglossars Digitalwiki.