Täter und Opfer im Fernsehen:
Beschwerden nach TV-Berichten über Amoklauf von München
Beim Medienanstalten-Portal Programmbeschwerde.de geht es rund. Zuschauer beklagen reißerische Berichte und Bilder zum Amoklauf von München.
Die Art und Weise, wie private und öffentlich-rechtliche Sender über den Amoklauf von München am Freitagabend mit 10 Toten berichtet haben, empört Zuschauer. Das Entsetzen des TV-Publikums drückt sich in Meldungen beim Bürgerportal Programmbeschwerde.de aus.
Das gemeinsame Angebot der Medienanstalten hat nach deren Angaben vom Dienstag "seit dem Wochenende etliche Beschwerden des Fernsehpublikums zu verzeichnen, die sich auf die Inhalte sowie Art und Weise der Berichterstattung über den Amoklauf von München beziehen". Betroffen sind demnach sowohl private als auch öffentlich-rechtliche Programme. Auf Anfrage hieß es etwa bei der Medienanstalt NLM in Hannover, die die Aufsicht über RTL führt, dass sich drei Beschwerden gegen den Kölner Sender richten. Alle seien unbegründet, es bestünde kein Anfangsverdacht, heißt es.
Erstaunen über das "Wie" im TV zeigte sich allerdings bereits am Freitagabend im Social Web:
Die Medien sagen, "keine Videos und Fotos vom Polizeieinsatz teilen."
— ☆Sofia☆von☆Hier☆ (@MiaSanMia2013) 22. Juli 2016
Was die aber im TV zeigen, ist auch nicht besser!#OEZ #Muenchen
Schon krass, wie manche TV-Sender gnadenlos Gerüchte verbreiten, ohne zweite Quelle usw. #OEZ
— kai budde (@kabukai) 22. Juli 2016
Kritisiert wird nun bei Programmbeschwerde.de, dass Live-Aufnahmen von Leichen wiederholt und teilweise in Großaufnahmen gezeigt werden, durch Reporter vor Ort Polizeianweisungen ignoriert und traumatisierte oder schockierte Menschen vor die Kamera gezogen würden. "Auch die ständig wiederholten Aufnahmen des schießenden Täters, teilweise in Endlosschleife, werden kritisiert, ebenso wie eine spekulative und teilweise als sensationslüstern empfundene Art der Berichterstattung", heißt es von der Landesmedienanstalt Saarland (LMS), die das Portal betreut.
Einige Zuschauer sehen darin nicht nur medienethische Probleme. "Sie vermissen auch die Einhaltung journalistischer Grundsätze und befürchten, dass durch die Art der Darstellung Persönlichkeitsrechte verletzt wurden oder gegen Bestimmungen des Jugendschutzes und des Schutzes der Menschenwürde verstoßen wurde", heißt es weiter.
Eine Jugendschutzproblematik sei auch hinsichtlich des Einsatzes der Videosequenz mit dem schießenden Täter am Folgetag gesehen worden. Befürchtet werde auch eine "Anreizfunktion der Tataufnahmen für psychisch labile Nachahmungstäter". Die Beschwerden leiten die Medienwächter an die TV-Anbieter weiter. Im Fall der Privatsender, die die Medienwächter beaufsichtigen, müssen die zuständigen Landesmedienanstalten die Vorwürfe prüfen.
Das Publikum trifft mit seinen Annahmen über psychische Folgen ins Schwarze, glaubt man dem Hamburger Psychiater Michael Schulte-Markwort. In einem Gastbeitrag für das "Hamburger Abendblatt" (Dienstagsausgabe) nahm der Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Hamburger UKE diesbezüglich auch die Medien in die Verantwortung.
"Es geht nicht darum, Berichte über Amokläufe komplett zu streichen, so, wie Berichte über Einzelselbstmorde von Jugendlichen in der Regel nicht veröffentlicht werden. Wir müssen allerdings verstehen, dass selbst durch terroristische Anschläge hasserfüllte Massentötungsimpulse oder Amokimpulse verstärkt werden können. Je weniger wir das reißerisch in den medialen Mittelpunkt stellen, desto geringer sind die Effekte."
Die allgemeine Verunsicherung führt nach Einschätzung von Schulte-Markwort dazu, "dass reflexhaft und vorschnell von terroristischen Anschlägen ausgegangen wird, im Fernsehen stundenlang Berichte darüber an erster Stelle stehen". Auch großformatig abgedruckte Fotos der Polizeieinsätze seien Ausdruck der "kollegialen Angst". Diese wiederum erzeuge bei jungen Menschen, "die aus anderen Gründen depressiv und verzweifelt sind, eine Sogwirkung, die wir nicht unterschätzen dürfen".
Die Medienanstalten jedenfalls und ihre Direktorenkonferenz DLM mit dem Präsidenten Siegfried Schneider wollen jedenfalls Lehren aus den aktuellen Vorkommnissen ziehen. Es solle nun "grundsätzlich über die Standards der Berichterstattung im Fernsehen" diskutiert werden, heißt es.