Lässt man sich nun noch einmal durch den Kopf gehen, was seit Freitag alles an Bildern durch die Sender lief - ungepixelte Aufnahmen vom Täter, identifizierbare fliehende Menschen, Opfer auf der Titelseite von "Bild am Sonntag", trauernde Angehörige in fast allen Medien - dann wirkt es, als hätten die Medien nicht wirklich dazugelernt.

Die gedruckte "Bild"-Zeitung erhielt in Winnenden zudem eine öffentliche Rüge, die entsprechend öffentlich gemacht wurde, also gleich einer Strafmaßnahme in "Bild" abgedruckt werden musste. Das Blatt habe in seiner mehrseitigen Berichterstattung laut Presserat gleich mehrfach über das Ziel hinausgeschossen.

Unter den Headlines: "Seid ihr immer noch nicht tot?" und "Wie wurde so ein netter Junge zum Amokschützen?" zeigte "Bild" ein ganzseitiges Bild des Amokläufers in einem Kampfanzug mit gezogener Waffe. Die Montage stellte laut Presserat den Amoktäter in einer Heldenpose dar, "unangemessen sensationell". Zudem zeichnete die Redaktion nach, wie der Amokläufer eine Lehrerin erschießt.

Dazu die Richtlinie 11.1 des Pressekodex:

"Unangemessen sensationell ist eine Darstellung, wenn in der Berichterstattung der Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, herabgewürdigt wird. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn über einen sterbenden oder körperlich oder seelisch leidenden Menschen in einer über das öffentliche Interesse und das Informationsinteresse der Leser hinausgehenden Art und Weise berichtet wird. Bei der Platzierung bildlicher Darstellungen von Gewalttaten und Unglücksfällen auf Titelseiten beachtet die Presse die möglichen Wirkungen auf Kinder und Jugendliche."

In weiteren Beanstandungen von Winnenden ging es um die Verletzung von Persönlichkeitsrechten von Opfern und Betroffenen. Dies galt laut Presserat auch für andere Fotos, etwa das Foto einer identifizierbaren Jugendlichen, die gerade von einer Betreuerin getröstet wurde. Und es galt für eine Abbildung, die mehrere Schüler einer benachbarten Schule zeigte, die "im Moment ihrer Betroffenheit erkennbar durch eine Scheibe fotografiert wurden."

Auch hier sieht es so aus, als hätten die Medien nur wenig Schamgefühl entwickelt. Trauernde Eltern wurden in München ebenso interviewt, obgleich sie noch unter Schock stehen. Weinende Freunde wurden fotografiert, Nachbarn des Täters aufgelauert. Auch heute, drei Tage nach der Tat, machen Medien damit auf.

Am schlimmsten ist es aber, wenn der Täter ständig gezeigt wird. Vor allem, wenn er als Held dargestellt wird. Das hat damals, 2009 in Winnenden, sogar der Spiegel gemacht, der den Mörder auf den Titel nahm. Gerügt wurde damals aber eine heroisierende Pose des Amokläufers in "Bild". Ganz schlimm hatte damals auch die "Zeit" berichtet. Sie listete in riesiger Aufmachung die 37 Amoktäter auf, die es bis dato gegeben hatte, unter der Headline "Wir sind so verdammt göttlich".

Einige Monate später hat die "Zeit" allerdings einen deutlich besseren Job gemacht und die Macht der Schützenvereine in Deutschland und die Angst der Politiker vor dieser Macht eindrucksvoll geschildert. Ein Bericht, der die Ohnmacht des Staates dokumentiert, die Kapitulation vor der Waffenlobby. Ähnlich reagierte auch der "Spiegel" deutlich reflektierter knapp zwei Wochen nach Winnenden und thematisierte den "lebensgefährlichen Unsinn privater Schusswaffen". In jenem Artikel ließ das Nachrichtenmagazin Peter Vitouch zu Wort kommen, den Professor für Medienpsychologie an der Uni Wien, der mahnte:

"Alles vermeiden, was den Täter heroisieren könnte."

Auch Britta Bannenberg, Kriminologin und Autorin, warnte unmittelbar nach Winnenden in der Sendung "Anne Will", dass eine Heroisierung des Täters den Grundstein für den nächsten Amoklauf lege.

Ist das so schwer zu verstehen?

München, Maxvorstadt, am Morgen nach dem Amoklauf: TV-Kameras auf dem Gehsteig weisen den Weg zur Täterwohnung.

Der Autor: W&V-Chefredakteur Jochen Kalka ist wider Willen zum Experten in Sachen Amoklauf und Medien geworden. Er arbeitet in München, wohnt aber mit seiner Familie in Winnenden und sorgte sich um seine Frau und seine beiden Töchter, die sich bei den Morden im März 2009 in der Schule nebenan aufhielten. Kalka schrieb das Buch "Winnenden – ein Amoklauf und seine Folgen" und wird immer wieder von Presse und Sendern zu Medienethik befragt.


Autor: Jochen Kalka

ist jok. Und schon so lange Chefredakteur, dass er über fast jede Persönlichkeit der Branche eine Geschichte erzählen könnte. So drängt es ihn, stets selbst zu schreiben. Auf allen Kanälen.