Sein Kollege Thomas Duhr, stellvertretender Geschäftsleiter von IP Interactive, benennt die Knackpunkte aber klar und deutlich. "Dass Nielsen Media Research die Brutto-Werbestatistik auf Werbeträgerbasis berechnet, verfälscht Umsätze im digitalen Bereich. Die Systematik kommt dem zunehmenden Trend zu Zweitvermarktung und Real-Time-Advertising in keinster Weise hinterher. Nielsen hält mit der Entwicklung der digitalen Vermarktung nicht mehr mit." Das Problem ist laut Thomas Duhr vor allem dem Umstand geschuldet, dass für die Brutto-Werbestatistik die gleichen Anforderungen wie beim Kampagnenmonitoring gelten.

Ein Beispiel aus dem Reich von IP Interactive: Das Kölner Team hat in diesem Jahr unter anderem punktuell Werbezeiten auf einem externen Video-on-Demand-Portal zweitvermarktet. Diese wenigen Wochen reichen, um die entsprechenden Umsätze auf der Seite für das ganze Jahr rückwirkend der IP zuzuschlagen – in der Nielsen-Systematik. Bei der Mediengruppen-Tochter wächst der Bruttoumsatz aber nicht wirklich. Er stehen nur in den Nielsen-Büchern. Somit profitiert nicht einmal IP davon. Schwerer wiegt die Methodik bei Online-Unternehmen, die selbst nicht vermarkten. Im Nielsen-Reich existieren sie nicht, da sie selbst gar keine Werbeumsätze erzielen. Vermarkter wie IP oder Springers ASMI mit vielen Mandaten aus vielen Bereichen stehen dagegen – auf dem Papier – immer besser da.

Zweites Problem, das laut IP-Manager Duhr für eine "verfälschte Wiedergabe" sorgt: die Meldefristen. Am fünften des Monats ist Stichtag bei Nielsen für die Brutto-Monatsbilanz. Eine echte Übersicht sei aber erst zum 15. des Monats möglich, rechnet Duhr vor. Die Vermarkter finden somit ihre Erlöse vom ersten bis zum letzten Tag des jeweiligen Monats erst in der übernächsten Nielsen-Bilanz wieder. Was dazu führt, dass die Zahlen laut Duhr "noch mehr verfälscht" würden. Zwei Forderungen hat Thomas Duhr an Nielsen: "Die Kampagnenmeldung muss von der Werbestatistik entkoppelt und anders gezählt werden." Zudem müssten Hochrechnungen erlaubt oder eingesetzt werden, um den toten Zeitraum zwischen Tag fünf und 15 im Monat logisch fortschreiben zu können.

Das Problem mit den Online-Umsätzen ist nicht neu. Seit Nielsen 2001 in Deutschland mit der Erfassung der Online-Werbung begonnen hat, haben Kritiker immer wieder am Realitätsgehalt der Zahlen gezweifelt. Die fortgesetzten Korrekturen zum Online-Werbedruck sorgen in jüngster Zeit aber für immer mehr Diskussionsstoff. Denn digitale Werbung ist längst keine Randerscheinung mehr. Noch vor wenigen Jahren fiel das Geschäft mit Bannern, Billboards und Popups gegenüber den Milliardenumsätzen mit TV-Spots und gedruckten Anzeigen statistisch wenig ins Gewicht. Inzwischen aber zählt Online zu den umsatzträchtigten Werbemedien. Nielsens Internetstatistik, so die Befürchtungen, könnte das Gesamtbild verzerren.

Auch Mediaagenturen sehen die Online-Bilanz des Hamburger Marktforschers kritisch. "Da gibt es eine ganze Reihe von Verfremdungsfaktoren“, meint Manfred Klaus, Geschäftsführer der Münchner Plan-Net-Gruppe. FOMA-Sprecher Uli Kramer von der Hamburger Agentur Pilot sieht "diverse Problemen in Methode und Umsetzung". Kaum jemand nehme die Online-Umsätze für wirklich bare Münze, heißt es unisono aus dem Markt. Die Zahlen taugten lediglich, um Trends und Tendenzen beim Werbedruck im Netz nachzuvollziehen. "Wir geben diese Zahlen an unsere Kunden nie unkommentiert weiter", sagt Kramer.
Marktforscher wie der Datarella-Gründer Jörg Blumtritt glauben sogar, dass die für klassischen Medien entwickelte Nielsen-Methode gar nicht mehr kompatibel mit der künftigen Big-Data-Welt ist: "Die auf Massenmedien ausgelegten Werkzeuge der Sozialforschung stoßen an ihre Grenzen".

"Unser aktuelles Datenmodell lässt nur eine 1-zu-1-Verknüpfung von einem Werbeträger zu einem Vermarkter zu", räumt Nielsen-Manager Darius Heller ein. "Leider haben wir vorschnell auf IP umgebucht." In den jüngsten Monatsdaten habe man das aber wieder korrigiert. Kritiker sehen in dieser Systemlücke einen Vorteil für Vermarkter mit vielen Mandanten. Sie stünden auf dem Nielsen-Papier besser da als Vermarkter, die ihre Werbeplätze über Drittkanäle verkaufen. Nielsens Online-Brutto-Statistik ist letztlich ein künstliches Konstrukt. Die Vermarkter rechnen die Umsätze, die sie nach Hamburg melden, seit jeher auf einen theoretischen Brutto-Kurs hoch. Nielsen-Experte Heller verteidigt diesen Brutto-Kurs. Die Statistik solle ja "den Werbedruck abbilden". Und der werde schließlich auch "durch Freispots" aufgebaut. "Intermediär vergleichbar kann dieser Druck am besten mittels offizieller Preislisten abgebildet werden",so Heller. Beim Hamburger Marktforscher sieht man dennoch Handlungsbedarf. Noch in diesem Jahr will Heller Vermarkter, Agenturen und Werbekunden an einen Tisch holen, um "an einer bestmöglichen Abbildung des digitalen Werbemarkts zu arbeiten". Fortsetzung folgt.

Im November-Newsletter beschwichtigt die Hamburger Truppe den Markt jedenfalls erstmals. Abschließend heißt es da: "Um Ihnen die besten Insights liefern zu können, arbeiten wir kontinuierlich daran, unsere Services an den Markt und Ihre Bedürfnisse anzupassen. So startet auch das nächste Jahr bei Nielsen mit Initiativen zur weiteren Optimierung unserer Berichterstattung. Insbesondere im digitalen Bereich werden wir verstärkt mit den Vermarktern, Agenturen, Verbänden und Werbungtreibenenden zusammenarbeiten, um auch zukünftig eine bestmögliche Abbildung des digitalen Werbemarktes zu gewährleisten."

Eine ausführliche Analyse der Schieflage rund um die Nielsen-Bruttostatisik und ein Interview mit Paul Mudter finden Sie in der aktuellen Printausgabe der W&V (EVT: 09.12.). Abo?

ps/tn


Autor: Petra Schwegler

Die @Schweglerin der W&V. Schreibt seit mehr als 20 Jahren in Print und Online über Medien - inzwischen auch jede Menge über Digitales. Lebt im Mangfalltal, arbeitet in München.