Zweite These: "Die Bedeutung der Corporate-Venture-Firmen steigt und ist vielleicht schon größer als die der klassischen Venture-Capital-Firmen."

Da tendiere ich eher zu einem "Nein". Es ist eine Sache der Wahrnehmung. Das Thema ist gegenwärtig en vogue, es wird über die Corporate-Venture-Firmen viel berichtet. Tatsächlich haben die sich auch stark professionalisiert. Aber bei den Start-ups, die alles antreiben, also die wirklich großen, findet man nach wie vor ein Finanzierungsumfeld, das von klassischem Venture Capital geprägt ist.

Dritte These: "Klassische VC-Unternehmen investieren lieber in späteren Entwicklungsphasen eines Start-ups, weil da das Risiko geringer ist."

Ja und nein. Unser Geschäft ist es immer noch, Risiko in Kauf zu nehmen. Und die besten Renditen erwirtschaftet man, wenn man sozusagen "konträr korrekt" ist, also in einer Phase investiert, in der es bei dem Unternehmen noch viele Fragezeichen gibt. Es ist heute viel einfacher, ein Start-up ins Leben zu rufen, eine Website, eine Datenbank aufzubauen, eine App zu kreieren. Das kostet inzwischen alles wenig Geld. Deswegen können wir es uns leisten, etwas wählerisch zu sein bei der Entscheidung, wen wir ab wann unterstützen. Die Teams kommen auch ohne uns zu einem gewissen Punkt in der Produktentwicklung. Wenn sich dann aber die Frage nach dem Wachstum stellt, sind wir bereit, sehr viel Geld zu investieren.   

In Deutschland wird häufig von einer Serie-A-Krise geredet. Die Gegenthese: "Eine Serie-A-Krise gibt es eigentlich gar nicht. Schwierig wird die Kapitalbeschaffung erst später, wenn Start-ups viel Geld für die internationale Expansion brauchen."

Für die Top ein bis fünf Prozent der Start-ups, die am Ende ein ganzes Ökosystem ausmachen, gibt es in jeder Phase eigentlich genügend Kapital. Ein Problem hat dagegen der gesunde Mittelstand der Start-ups, der ebenfalls für das Ökosystem sehr wichtig ist.

Vor allem, wenn es um höhere Summen geht.

Ja, sobald es um zehn, 15 oder 20 Millionen Euro geht, muss ein Start-up schon eine enorme Sichtbarkeit haben und sehr gut unterwegs sein. Da ist die Hürde oftmals zu hoch. Ein gesundes, solides, wachsendes Start-up, das einen solchen Finanzierungsbedarf hat, aber nicht ganz zu den Top fünf Prozent gehört, tut sich in Europa schwer.  

Im Unterschied zu Start-ups in den USA.

Ja. In den USA wird aber ebenfalls vom "Series-A-Crunch" gesprochen. Allerdings ist es nicht so, dass es dort kein Geld gäbe. Die Markt-Dynamiken haben sich einfach verändert. Weil man inzwischen eben in der Seed-Phase mehr erreichen kann, sodass heute viel mehr Gründer an die Startlinie gehen. Damit wird zugleich das Filtersystem viel feinmaschiger. Dies wirkt wie eine Serie-A-Krise. Tatsächlich ist aber für diese Phase genau so viel Geld da wie vor einigen Jahren.

Berlin ist in den vergangenen zwei, drei Jahren ins Blickfeld großer Investoren im Silicon Valley und in Großbritannien gekommen. Was muss in Berlin passieren, dass das so bleibt?

Es gibt eigentlich nur eins: Es müssen große, wertvolle Unternehmen aufgebaut werden. Man munkelt derzeit über einen Börsengang von Zalando mit einem Volumen von mehreren Milliarden Euro. Und auch Soundcloud nähert sich der Milliarden-Bewertung. Es gibt also bereits Kandidaten. Davon brauchen wir mehr. Und irgendwann müssen die auch an die Börse gehen oder verkauft werden. In Europa haben wir früher allerdings immer zu früh verkauft. Jetzt hat die Szene etwas mehr Geduld. Und wenn man ein Milliarden-Unternehmen aufbauen will, dann dauert das eben auch etwas länger. Die Amerikaner haben diese Geduld.

Wäre der große Exit, über den immer gesprochen wird, der endgültige Beweis, dass es Berlin geschafft hat?

Es wäre zumindest der Beweis, dass das Ökosystem funktioniert. Viel wichtiger ist aber, dass man dann viele Entwickler hat, die ein Unternehmen groß und erfolgreich gemacht haben und nun selbst über viel Geld verfügen, um nun ihr nächstes Ding durchzuziehen.

Welche Branchen sind für Earlybird überhaupt interessant?

Wir sind vor allem an hochgradig vertikalen Netzwerken interessiert. Wir haben zum Beispiel in die Fußball-App iLiga investiert. Die haben eine Community nur zum Thema Fußball, sind also hochgradig vertikalisiert. Denn auf einem mobilen Endgerät hat man wenig Platz, da will sich niemand durch zig Sport-Kategorien hindurchklicken. Oder wir investieren in einen Marktplatz nur für Fashion, einen Marktplatz nur für Kunst und Antiquitäten. Wir haben auch Wunderlist unterstützt, das sich auf Listen fokussiert.

Bei Investitionen sind oftmals weitere Geldgeber dabei. Beanspruchen Sie den Lead?

Ja, das tun wir. Schon allein wegen unserer Fonds-Größe. Wir wollen die Mannschaft auf der Investoren-Seite anführen. Wenn allerdings ein anderer großer Investor, etwa aus den USA, mit einer größeren Summe einsteigt, sind wir bereit, den Junior-Part oder den Co-Lead zu übernehmen. Am Ende geht es darum, was für das Unternehmen das Beste ist.

Nun zu einem anderem Thema: Vor Kurzem gab es in der "Wirtschaftswoche" einen Artikel mit der Headline "Bei Berlins Startups ist die Party vorbei". Sie haben sich darüber offenbar sehr geärgert und in der Huffington Post dazu einen Blogbeitrag verfasst. Fokussiert sich die deutsche Wirtschaftspresse zu sehr auf die DAX-30-Konzerne? Hat sie zu wenig Know-how im Digitalbereich?

Ich denke, das ist so. In Deutschland gab es lange Zeit keine Start-up-Kultur. Das hat sich mittlerweile geändert. Um nur ein Beispiel zu nennen: Trivago aus Düsseldorf hat bereits eine Milliarden-Bewertung. Ich glaube, es ist tatsächlich mangelndes Know-how in den Redaktionen. Was einen ja fast schon traurig macht, ist aber, dass manche Journalisten offenbar nur darauf warten, dass Start-ups scheitern. Das passiert ohnehin, 70 Prozent aller Start-ups scheitern. In Teilen der Presse wird dies dann ausgeschlachtet, um daraus eine Story zu machen.

Trotzdem gibt es durchaus Kritikwürdiges in der Start-up-Szene, über das berichtet werden muss.

Sicher, aber der Szene geht es doch nicht darum, hochgejubelt zu werden. Das macht zum Beispiel die "Financial Times" auch nicht. Die ist sogar extrem kritisch. Aber die FT versteht, dass ein Satz wie "Selbst vor Pleiten ist die Berliner Internet-Community nicht mehr gefeit", wie das in der "Wirtschaftswoche" der Fall war, eine Absurdität ist. Das zeigt, dass in Teilen der deutschen Wirtschaftspresse die absoluten Basics nicht verstanden werden. Die Presse ist symptomatisch für das generelle Bild in Deutschland, wo das schnelle Scheitern und das Wiederaufstehen in der Start-up-Szene nur zögerlich akzeptiert werden.  

Liegt es vielleicht auch daran, dass meist nur über Consumer-orientierte Start-ups berichtet wird? Inzwischen gibt es viele B-to-B-Start-ups, die Riesenumsätze machen. Nur eben mit Produkten, die mitunter schwierig zu beschreiben sind.

Ich glaube nicht, dass die Produkte so kompliziert sind. Zum Beispiel Sociomantic in Berlin. Die machen Retargeting für Online-Werbung und einen Umsatz in Höhe von über 100 Millionen Euro. Da könnte man sich durchaus die Mühe machen, über sie zu berichten. Aber es ist eben kein Consumer-Unternehmen.

Consumer-orientierte Start-ups trommeln vielleicht lauter...

Klar, die sind mit Absicht laut und bunt, um die Aufmerksamkeit der Konsumenten zu wecken. Dazu haben sie oftmals eine gute PR-Strategie. Überhaupt war es meist einfach, über die Berliner Start-up-Szene zu berichten. Es ist dort viel los und man hat relativ schnell eine Story. Es wird aber nicht genauer hingeschaut und gefragt "Wer sind eigentlich die Champions?"

Amerikanische Wirtschaftstitel haben da meiner Erfahrung nach einen anderen Blick.

Absolut. Das kommt aber nicht von ungefähr. In den USA hat man 40, 50 Jahre Erfahrungen mit Start-ups gesammelt. Mal in guten, mal in schlechten Zeiten. Und der Boom und Bust der Dot.com-Zeit war nur ein kurzer Zyklus in einer langen Periode. Die deutsche Wirtschaftspresse und auch die Leser haben Internet-Start-ups erst Ende der 90er-Jahre kennengelernt. Und gleich diese erste Welle ist massiv gescheitert. Das steckt vielen noch in den Knochen, obwohl es schon fast 15 Jahre her ist.


Autor: Franz Scheele

Schreibt als freier Autor für W&V Online. Unverbesserlich anglo- und amerikanophil interessieren ihn besonders die aktuellen und langfristigen Entwicklungen in den Medien- und Digitalmärkten Großbritanniens und der Vereinigten Staaten.