Kolumne Markenlage:
"Es gibt nur eine Chance, die Marke Bild noch zu retten."
Mike Kleiß weiß: Es gibt gute Journalisten und tolle Menschen bei Bild. Sie und die Marke Bild wurden in den letzten Monaten stark beschädigt. Das ist nicht alleine die Schuld von Julian Reichelt.
Um ehrlich zu sein: Kaum etwas hat mich in den letzten Tagen mehr genervt, als das Hate-Bashing gegen den ehemaligen Bild-Chefredakteur Julian Reichelt. Sehr oft ausgerechnet von Journalist:innen, die sich öffentlich gegen den Hass im Netz aussprechen, das ist ziemlich klein. Aber das ist Deutschland: Wir lieben Abgründe, wir lieben es, Menschen am Abgrund zu sehen. Und wenn sie fallen, gibt es dicken Applaus. Einigen muss es schwergefallen sein, heute Morgen in den Spiegel zu schauen, hoffe ich.
Meine Großmutter hat immer gesagt: Es gibt keine Geheimnisse. Am Ende kommen sie nämlich doch immer raus. Oma, darauf Dein Lieblingsgetränk, darauf einen Cappuccino. Für den unabhängigen Journalismus ist das, was in den letzten Tagen passiert ist, wirklich ein Segen. Denn obwohl Verleger Ippen der Wahrheit keine Bühne geben wollte, hat das Team um Ippen-Investigativ-Chef Daniel Drepper doch einen Weg gefunden, Licht in die dunkelste Ecke des Axel Springer Verlages zu bringen. Dafür ist dem Ippen-Investigativ-Team wirklich jeder Journalistenpreis zu verleihen, der zu vergeben ist. Jeder. Ein ganzes Team hat sich gegen den eigenen Verleger gestellt, und alle waren wohl überzeugt: Wir machen das, egal was das kostet. Im Zweifel den eigenen Job.
Diese Kultur ist nicht nur menschlich toxisch.
Die letzten Tage waren jedoch auch die wohl dunkelsten Zeiten, die der deutsche Journalismus je erlebt hat. Denn ein ganzer Verlag – der Axel Springer Verlag – hat nicht nur die DNA, sondern auch eine Unternehmenskultur, die von alten weißen Männern geprägt ist. Eine Welt voller Altherrenwitzen, voller Sexismus, ohne Respekt vor Frauen. Diese Kultur ist nicht nur menschlich toxisch. Diese Kultur ist ein Missbrauch an Diversität, Feminismus und Gleichstellung. Wer Frauen im Jahr 2021 so behandelt, wie augenscheinlich geschehen, hat sich nicht nur arbeitsrechtlich sondern hoffentlich auch strafrechtlich zu verantworten.
Es muss endlich Schluss mit der Diskrimierung von Frauen sein, unsere Gerichte sollten hier das maximale Strafmaß ansetzten. Da der Fisch immer vom Kopf stinkt, macht das Bauernopfer Julian Reichelt alleine keinen Sinn. Zu verantworten hat diese Kultur, diesen unfassbaren Schaden, der Vorstandsvorsitzende, Matthias Döpfner. Und für mich ist es nur eine Frage der Zeit, wann auch das Kapitel Döpfner geschlossen wird. Es ist die einzige Chance, die Marke Bild noch zu retten.
Nicht, weil Döpfner ein schlechter Manager ist, aber: Er hatte seine Zeit. Eine Zeit, die wir Gott sei Dank in den 1970iger Jahren bereits langsam hinter uns gelassen haben. Nur falls jemand der Herren im Verlag mitliest: Nein, es ist nicht mehr okay, Macht als Führungstool einzusetzen. Es ist nicht okay, Frauen unter Druck zu setzen, sie zu bedrohen, sie zu nötigen, sie verbal oder gar physisch zu begrabschen. Es ist nicht okay, Frauen zu benachteiligen, sie zu belästigen. Und: Nein! Es ist auch nicht mehr okay, Pressemitteilungen mit der Zeile „Das Führungsteam“ zu veröffentlichen, mit Fotos, auf denen nur Männer zu sehen sind.
"Sie haben mit mir ihre Sorgen, ihre Fassungslosigkeit oft und intensiv geteilt."
Spätestens nach der Entlassung von Julian Reichelt hätte man die Chance nutzen können und müssen, eine Chefredakteurin zu präsentieren. Verknüpft mit einem völlig neuen Konzept der Unternehmenskultur. Zusätzlich wäre das der perfekte Zeitpunkt für Döpfner gewesen, sich ehrlich zu machen. Zu gehen. Platz für Erneuerung zu machen. Ehrlichkeit verpasst. Chance verpasst. Ohne diesen Schritt wird die Marke Bild sterben, da lege ich mich fest. Ich bin mir aber auch sicher: Wir brauchen ein Medienformat wie Bild. Boulevard war immer ein fester Bestandteil des deutschen Journalismus. Aber wir brauchen eine Marke Bild, die divers ist. Die weiblicher ist. Die stark ist, jedoch nicht stark dadurch, dass sie von Hirschverhalten geprägt, Menschen verletzt und abwertet.
Durch meine tägliche Arbeit weiß ich: Es gibt bei Bild wunderbare Journalist:innen. Wunderbare Menschen, die massiv unter dem Regime Reichelt-Döpfner gelitten haben. Sie haben mit mir ihre Sorgen, ihre Fassungslosigkeit oft und intensiv geteilt. Ich würde ihnen allen so sehr wünschen, dass dieser Verlag endlich die Feldbetten für immer verbannt. Ich würde ihnen so sehr wünschen, dass die Marke Bild mehr Menschlichkeit zulässt. Innen wie außen. Es ist nichts Falsches am Boulevardjournalismus, aber es ist falsch, dass der Spuk noch immer kein Ende hat.
Dennoch: Ich habe Hoffnung. Denn der französische Politiker, Diplomat und Journalist Alain Peyrefitte hat mal in einem Interview gesagt: "Die Presse muss die Freiheit haben, alles zu sagen, damit gewisse Leute nicht die Freiheit haben, alles zu tun.“