Kritik an Big Data:
"Ich bin nicht euer Kaufroboter!"
Big Data ist clever? Von wegen, ruft W&V-Blogger Thomas Koch datenverliebten und kundenblinden Marketern zu, denn: "Ihr werdet ohnehin nie begreifen, warum ich Jeep fahre, Lacoste trage, Actimel trinke, Luckies rauche, Arla gesalzen auf mein Harrry Toast schmiere".
Big Data ist clever? Von wegen, ruft W&V-Blogger Thomas Koch* datenverliebten und kundenblinden Marketern zu, denn: "Ihr werdet ohnehin nie begreifen, warum ich Jeep fahre, Lacoste trage, Actimel trinke, Luckies rauche, Arla gesalzen auf mein Harrry Toast schmiere".
Marken, Handel, Marketing, Werbung und Agenturen - sie alle träumen von der Big Data-Revolution. Von einer Zukunft, in der sie alles über uns wissen. Alles! Was wir kaufen, wie oft wir es kaufen, wo und wie wir es kaufen, warum wir es kaufen. Am liebsten wüssten sie noch, was wir denken - und warum. Der gläserne Verbraucher steht nackt vor ihnen und dicht vor der Tür.
Wirklich? Kommt niemand in den Sinn, dass es möglicherweise ganz anders kommt?
Seit den Enthüllungen über die Ausspähungen der NSA brechen die Nachrichten darüber, wer uns in welcher Absicht ausspäht, nicht ab. Wir erfahren, dass alles, was technisch geht, auch Wirklichkeit wird. Diese Nachrichten verunsichern die mündigen Verbraucher täglich.
Man kann also die Kameras an unseren Rechnern und Laptops aktivieren, ohne dass wir es merken? Jeder der will, kann in unser Wohnzimmer sehen? Jeder der will, kann unsere Intimsphäre beobachten? Dann kaufen wir künftig eben Rechner ohne Kamera…
Jeder der will, kann unsere Smartphones anzapfen und jedes unserer Gespräche belauschen? Gut zu wissen. Deshalb legen schon die ersten ihr Smartphone vorsichtshalber zur Seite und nehmen es erst gar nicht mit in wichtige Gespräche. Vielleicht war das mit den Smartphones doch keine so gute Idee…
Dagegen ist Targeting Kindergarten
Jede Transaktion mit den unzähligen Kreditkarten, die wir in unseren Brieftaschen lagern, wird aufgezeichnet. Und ausgewertet. Vor allem aber verkauft. An jeden, der dafür zahlt. Was ich einkaufe, weiß Xaxis am nächsten Tag. Dagegen ist Targeting und Re-Targeting geradezu Kindergarten. Der Tag ist nicht mehr fern, da kehren die Menschen zurück zum guten, alten Bargeld, dessen Weg sich nicht zurückverfolgen lässt. Zumindest so lange, bis Google in jeden Geldschein einen Chip implantiert, der seinen Weg aufzeichnet.
Der nächste Schritt wären Kameras, die uns überall beim Einkaufen beobachten. Ach, Sie meinen, die müssten erst noch installiert werden? Keinesfalls, sie sind bereits reichlich vorhanden. Nur ist Google noch nicht auf die Idee gekommen, sie zu nutzen, auszuwerten und auch diese Daten meistbietend an die Marketingindustrie zu verkaufen. Aber keine Sorge. Das kommt früh genug.
Der Online-Handel meldete zu Weihnachten ein Umsatzplus von 40 Prozent. Bald werden wir alles Online bestellen. Dumm nur, dass die Hälfte der (berufstätigen) Bevölkerung nicht zugegen ist, wenn täglich Dutzende verschiedener Paketboten an unseren Haustüren schellen. Wir bestellen, aber die Ware erreicht uns nicht. Wie sehr der Online-Handel nicht funktioniert, haben dieses Jahr die Amerikaner zu Weihnachten erlebt . Bald besinnen wir uns wieder darauf, wie schön es damals war, einkaufen zu gehen. Uns vom Schaufensterbummel inspirieren zu lassen. Dabei Bekannte zu treffen und zusammen Kaffee zu trinken.
Ist es denn so abwegig zu denken, dass wir uns einmal gegen all das wehren? Gegen die Schattenseiten der digitalen Welt. Gegen die neue Transparenz des Individuums, von der der Einzelne nicht besonders viel hat. Von der in erster Linie nur Handel und Marketing profitieren.
Ihr wollt "Zielgruppe"? Bitte sehr…
Keine Sorge, es werden sich nicht alle wehren. Nicht die Menschen, die täglich vor den nachmittäglichen Sitcoms und abendlichen Doku-Soaps sitzen. Nicht die Bildungsfernen, die das alles nicht kratzt. Wohl aber die Gebildeten, die Kritischen, die Besserverdienenden. Sie werden sich das nicht gefallen lassen. Dumm nur, dass es genau die sind, die das Marketing am liebsten umgarnt: Die Meinungsbildner.
Die mündigen Verbraucher machen sich die Vorzüge des digitalen Zeitalters zunutze. Aber sie lassen sich nicht knechten. Sie werden sich nicht von Marken und Dienstleistern ausspähen lassen. Sie haben ein gesundes Gespür dafür, wer hier eigentlich von wem lebt - wer vom wem abhängig ist. Die Marken und Dienstleister, die Händler und Versender - sie haben für ihre Verbraucher da zu sein. Nicht umgekehrt.
Ich bin kein Digital-Gegner. Ich liebe das Internet. Ich bin ein Addict wie wir alle. Aber ich bin auch ein Freund von "alles in Maßen". Wir werden nicht alles online kaufen. Weil es ein Irrsinn ist. Und weil es, Hand aufs Herz, zwar "effizient" ist - es uns aber jeden Spaß am Shopping nimmt. Eine Innenstadt ohne Geschäfte kann und will ich mir nicht vorstellen.
Ich bin nicht euer Kaufroboter
Ich lasse mich nicht ausspähen. Weil es mein Leben ist, in das ihr eure digitale Lupe hineinhalten wollt. Und selbst wenn - ihr werdet ohnehin nie begreifen, warum ich Jeep fahre, Lacoste trage, Actimel trinke, Luckies rauche, Arla gesalzen auf mein Harrry Toast schmiere. Und von Nespresso abgeschworen habe. Ihr werdet nie begreifen, dass ich nur deshalb ein so treuer Markenkäufer bin, weil sich andere Marken nicht die geringste Mühe geben, mich zu erreichen. Sie werden es auch mit Ausspähen nicht schaffen. Wer Marketing und Werbung verlernt hat, kann das Manko durch Ausspähen nicht ausgleichen.Nur weil die selbstgefälligste aller Branchen ihr Handwerk verlernt hat, lasse ich mich nicht zu eurem Kaufroboter umerziehen. Wenn die Branche nicht sehr schnell lernt, uns wieder wie Menschen (statt wie einen Haufen Daten) zu behandeln, kann sie einpacken. Und ihr Big Data gleich mit beerdigen.
Matthias Horx, unser aller Lieblings-Zukunftsforscher sieht einen Trend zur "Digitalen Revision". Er glaubt, dass wir die Segnungen des digitalen Zeitalters in den nächsten Jahren zunehmend kritisch hinterfragen werden: "Nicht aus Technikfeindlichkeit, sondern aus Selbsterhaltung." Gut möglich, dass Richard David Precht, der in eine ähnliche Kerbe schlägt, und Horx Recht behalten.
Wir können und wollen die Uhr nicht zurückdrehen. Das digitale Zeitalter bleibt uns erhalten. Aber es muss uns nicht alles daran gefallen - und wir müssen uns nicht alles gefallen lassen: Die Segnungen erhalten und die Auswüchse verhindern. Je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger glaube ich an die Zukunft von Big Data.
* Thomas Koch, Agenturgründer, Ex-Starcom-Manager, Wirtschaftswoche-Kolumnist, Herausgeber von "Clap" und Media-Persönlichkeit des Jahres, bloggt für W&V. Er ist "Mr. Media".