
Bundestagswahlkampf 2017:
Daten-Wahlkampf: Tim Renner unterwegs auf den "Swing Streets"
Ex-Universal-Manager Tim Renner will für die SPD in den Bundestag einziehen. Dabei setzt der Marketingprofi auf Datenanalyse und eigene Kampagnen-Ideen jenseits der Bundespartei.

Foto: Nino Mello Wagner
Tim Renner schwitzt ein bisschen nach. Der ehemalige Universal-Manager und Berliner Kultur-Staatssekretär ist mit dem Fahrrad unterwegs im Bundestags-Wahlkreis 80, Berlin, Charlottenburg-Wilmersdorf, 200 000 Wahlberechtigte. Renner ist dort Direktkandidat für die Sozialdemokraten, er will erstmals in den Bundestag. 2013 ist der Wahlkreis an die CDU gefallen, 2002, 2005 und 2009 hatte die SPD gewonnen.
Um die SPD und ihren Kanzlerkandidaten Martin Schulz steht es derzeit gar nicht gut. Die Umfragewerte der Partei dümpeln bei 24 Prozent, die jüngste Regierungskrise der rot-grünen Regierung in Niedersachsen reiht sich in eine Serie von Rückschlägen bei Landtagswahlkämpfen ein. Renner will wenigstens Charlottenburg-Wilmersdorf wieder rot machen. Die Daten-Analyse und eigene Kampagnen-Ideen jenseits der Bundespartei sollen ihm dabei helfen.
"Swing Streets" per Datenanalyse identifiziert
Renner fährt mit dem Eiswagen durch Charlottenburg und verteilt "Eis für alle", um das Eis im persönlichen Gespräch mit dem Wähler zu brechen. #wirklichmachen steht in Rot auf dem weißen SPD-Eiswagen. Der Kandidat radelt allerdings nicht wahllos durch seinen Bezirk. Welche Straßenzüge er bespielt, beruht auf der Auswertung von Daten. Renner: "Wir arbeiten mit einem Mobilisierungsplaner, der uns aufgrund von Datenanalysen anzeigt, wo die Swing Streets sind".
Renner und sein Team haben zuvor die offen zugänglichen Datensätze aus den Landeswahllokalen durchforstet. Sie haben neun Straßenzüge identifiziert, wo potenzielle Wechselwähler wohnen. Wähler, die mal die Grünen, mal FPD wählen, die sich am 24.September aber auch für einen SPD-Kandidaten entscheiden könnten - wenn er so ist wie Renner, und ihre eigenen Erststimmen-Kandidaten möglicherweise keine Chance haben, in den Bundestag einzuziehen.
Zu den Swing Streets zählt eine 1,5 km-Zone rund um den Ku'damm, die Gegend um den Lietzensee oder beispielsweise den Volkspark Wilmersdorf, wo viele Wähler bei der letzten Bundestagswahl Grün oder FDP gewählt haben. Dort verteilt Renner das "Rote Album" - eine CD - auf der Tenor Björn Casapietra singt und Renner frei über sein Wahlprogramm redet - Bürgerversicherung oder Maschinensteuer für die Zeiten beschleunigter Digitalisierung, wenn Maschinen und Computerprogramme sehr viele Menschen aus der Arbeit drängen. Grundeinkommen ist auch ein Thema, das ihn umtreibt.
In Zeiten von Social Media fließt immer noch der größte Anteil des mittleren fünfstelligen Wahlkampfbudgets im Kreis in den analogen Wahlkampf. "Finanziell findet keine Verschiebung Richtung Social Media statt, von der Aufmerksamkeit her aber schon", sagt Renner. Auf Unterstützung der Bundes-SPD und deren Agentur KNSK will sich Renner bei seinem Social Media-Wahlkampf nicht verlassen. Offenbar ist auch nicht ganz klar, wie die Online-Unterstützung der Bundeswahlkampfzentrale aussehen würde.
Unterstützer aus der Kreativszene
Vielleicht interessiert es Renner auch nicht. Denn er hat ohnehin den cooleren Auftritt. "Ich hatte mein Leben lang mit Marketing zu tun. Da marschiere ich voraus, ohne zu schauen, wie die Unterstützerpakete der Zentrale aussehen", sagt Renner. Der ehemalige Musikmanager ist gut vernetzt. Er kann auf befreundete Kreative zurückgreifen, die ihn - auch mal pro bono - unterstützen.
Marion Heine, ehemalige Geschäftsführerin bei Plantage, heute Inhaberin von Spring Brand Ideas, ist in die Kampagnen-Konzeption eingebunden. Honest Productions zählt zu Renners kreativem Netzwerk oder auch Gummig Kommunikation. Der Kameramann Nino Mello Wagner beispielsweise hat den Spot The Naked Candidate produziert (hier gab es einen Zuschuss von der Bundespartei). Der Spot soll Ende August online gehen und den Auftakt geben für eine Reihe von Videos für Renners Social Media-Wahlkampf.
Renner setzt im Wahlkampf vor allem seine zwei Facebook-Seiten ein - seine private Seite, wo er die größte Reichweite erzeugt, sich nicht nur als Politiker äußert, sondern auch Privates zeigt. Das ist ohnehin seine Stärke - zu zeigen, wer er - beruflich ist und war, was ihn umtreibt, wie er lebt oder, dass sein Vater mit einer Cutterin losgezogen ist. Es wirkt echt und nahbar, das ist nicht schlecht für einen Politiker.
Seine Kandidatenseite dient eher als Aktivierungs-Instrument für die Partei und ihre Anhänger.
Bescheidene Summe für Facebook-Marketing
Eine bescheidene vierstellige Summe steht dem "Bundesrenner" (so heißt seine Homepage) zur Verfügung, um gut funktionierende Videos mit Facebook-Marketing gezielt zu promoten. Das Geld wird vor allem in den letzten 30 Tagen vor dem Wahltag zum Einsatz kommen, wenn viele Videos online und hoffentlich viral gehen.
Es soll breit gestreute Postings geben, um Reichweite aufzubauen und Botschaften, die nach Postleitzahlen und Alterssegmenten gestreut werden. Instagram und Twitter spielen eine untergeordnete Rolle. Instagram, weil es es als "ästhetisches Bildmedium nur begrenzt für Wahlbotschaften geeignet ist" und Twitter, weil es sich "vor allem an Journalisten richtet und ich die fünf Bezirksjournalisten auch persönlich anrufen kann", sagt Renner.
An Snapchat hat sich Renner schon während seiner Zeit als Kultur-Staatssekretär probiert: "Staatsrenner" hat 1076 Follower. "Snapchat kriege ich nicht viral. Für den Wahlkampf ist es nicht stimmig", sagt Renner. Seine Töchter haben ihn auf Snapchat inzwischen auch geblockt.
Das Image der SPD als Fortschrittspartei wiederbeleben
Der Charlottenburger Direktkandidat will das Image der SPD als Fortschrittspartei und Treiber von Veränderungen wiederbeleben. Dazu braucht es ein klareres, progressives Profil. "Im digitalen Wandel braucht es eine Partei, die sich der Veränderung zuwendet und sie sozial gestalten will. Ich bin einer von denen, die versuchen, das Potenzial zur Veränderung, das von jeher in der SPD schlummert, wachzurufen", sagt Renner.
Möglich, dass Renners Veränderungswille stärker ausgeprägt ist als derjenige seiner Partei. Die Kreis-SPD wollte das Geld wie immer in 40 000 Kugelschreiber stecken. Jetzt gibt es nur 20 000, und die sind auch noch Weiß statt Rot. "Da muss man richtige Kämpfe ausfechten", sagt Renner. #timrennt, die Partei hinkt hinterher. "Die Bundespartei versucht schon, die Kandidaten zu animieren, aus ihrem Infostand- Einerlei herauszukommen", sagt Renner.
Am Stuttgarter Platz kommt irgendwann am Spätnachmittag Annette Humpe vorbei. Die Musikerin und der ehemalige Musikmanager kennen sich gut, aus alten Zeiten. Mit der SPD kann Humpe nicht mehr allzuviel anfangen, zu Wischi Waschi. "Dich würde ich wählen, aber nicht die SPD", sagt Humpe zu Renner. Es geht wohl vielen so ähnlich.