Facebook-Reichweite:
Gerald Hensel: "Die Mär, nach der guter Content gewinnt, stimmt nicht"
Facebook habe selbst das Tor zu radikalem Paid-Media-Wildwuchs geöffnet und damit dauerhaft organischem Content den Boden entzogen. Die Voraussetzungen dafür, dass der User heute mit Protein-Pulver Ads zugespamt wird, habe Facebook selbst geschaffen, kommentiert Gerald Hensel, Strategy Director bei Scholz & Friends, die aktuelle Diskussion um Facebook-Reichweiten.
Facebook habe selbst das Tor zu radikalem Paid-Media-Wildwuchs geöffnet und damit dauerhaft organischem Content den Boden entzogen. Die Voraussetzungen dafür, dass der User heute mit Protein-Pulver Ads zugespamt wird, habe Facebook selbst geschaffen, kommentiert Gerald Hensel die aktuelle Diskussion um Facebook-Reichweiten in einem Gastbeitrag für W&V Online. Hensel ist Strategy Director bei Scholz & Friends, Berlin. Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Vernetzung von Marken sowie Planung und Führung digitaler Ökosysteme.
Ich habe mindestens drei digitale Leben: In meinem ersten Leben bin ich Kunde und User, der neben vielen Freunden und dem üblichen Katzen-Content auch einige ihm liebe und wichtige Marken und Medien abonniert hat, sich aber trotzdem zunehmend über Proteinpulver-Ads und Anzeigen osteuropäischer Partnervermittlungen in seinem Newsfeed wundert.
In meinem zweiten Leben bin ich Blogger und Web-Bürger mit mehreren privaten Blogs, für die ich bewusst Facebook als Aktivierungsplattform ausgewählt habe und jetzt überrascht zusehen muss, wie meine über jahrelange Content-Arbeit aufgebaute Community meine Posts einfach nicht mehr sieht.
Und in meinem dritten Leben bin ich Stratege und Berater für Marken in einer Welt im Umbruch, der sich fragt, ob sich all die, die Marken und Agenturen in den letzten Wochen mit Häme überzogen und Mark Zuckerberg zum Retter der guten, wahren und markenfreien Interaktion in den Himmel gelobt haben, wirklich durchgelesen haben, was sie da geschrieben haben.
So behauptet der Blogger und Digital-Berater Thomas Knüwer auf seiner Seite Indiskretion Ehrensache, dass Facebook durch das Kappen organischer Reichweite sich nicht der Werbung gebeugt habe, "...weil die Interessen der Nutzer über die der Wirtschaft gestellt werden...". "Nicht Facebook kassiert ab, sondern die Werber, die ihren Kunden eintrichtern wollen, Facebook wolle sie über den Tisch ziehen."
Nee, klar.
Manfred Klaus von Plan.Net sekundiert in dem W&V-Interview "Es gibt kein Recht auf Gratis-Reichweite", dass Marken, die irrelevante Posts liefern, jetzt zusehen müssen, wo sie bleiben. Guter Content würde schließlich belohnt werden. Für alle Anderen, böte sich immer noch genug Raum, die Performance der eigenen Posts mit den "exzellenten" Consumer Insights und dem Targeting Angebot von Facebook zu optimieren.
Die Lösung ist also ganz einfach, liebe Marken. Schaffen Sie doch ausnahmsweise einfach mal guten Content. Simpel, oder?
Selten haben wir Paid-Media und Social-Media-Spezialisten in so fröhlicher Eintracht gesehen wie zur Zeit. Die Einen preisen ausgerechnet Mark Zuckerberg für seine Entscheidung, organische Reichweite zu kappen, als Vorkämpfer gegen stupiden Marken-Spam. Die Anderen freuen sich, dass aus Social Media nun endgültig Media wird. Ein Schelm wer Böses dabei denkt. Zeugen doch beide Positionen von einer recht geringschätzigen Position gegenüber einer Welt, in der Marken neue, freiere Interaktionsformen mit ihren Kunden finden können und zum großen Teil auch wollen. Kronzeuge: die schwarzen Marken-Schafe im Newsfeed, denen angeblich ausgerechnet Facebook jetzt Zügel anlegt.
Natürlich gibt es einen Haufen sinnloser Werbemessages auf Facebook. Natürlich gibt es Mega-Corporations, die Facebook einfach als Mediakanal betrachten, in dem es wieder einmal nur um Reichweite geht. Keine Frage: Ausgehend von dieser Sichtweise kann ein Unternehmen natürlich für die Aussteuerung von Content bezahlen. Denn ein Recht auf freien Content gibt es – stimmt, Herr Klaus – in der Tat nicht.
Es gibt aber auch noch eine andere Sichtweise. Und das ist die Perspektive vieler Marken, mit denen ich zusammenarbeite und zusammengearbeitet habe: Unternehmen, für die Facebook häufig ein erster Schritt ins Social Web war und die aufrichtig interessiert sind an dieser für sie immer noch nicht einfach zu projektierenden Welt. Unternehmen, die viele personelle und auch materielle Ressourcen investiert haben, um ihre Kommunikation für eine Welt der Interaktion neu zu erfinden.
Für viele dieser Unternehmen ist Facebooks jüngster Schritt ein Schlag ins Gesicht. Zwar kann Facebook darauf setzen, dass viele existierende Facebook-Aktivierungskonzepte "too big to fail" sind. Dass diese Entscheidung aber gleichsam die "Reformer" in Marketingabteilungen nachhaltig beschädigt, dürfte ausgemachte Sache sein. Denn eben jene, die ihre Arbeitgeber wirklich bis zu einem Stück neu erfinden wollten, werden jetzt von Facebook im Regen stehen gelassen. "Freie Interaktion? Gibt’s nicht mehr. Das ist jetzt doch wieder Media, Chef."
Dass in diesem Kontext Zuckerberg als Che Guevara einer Renaissance des privaten Social Networks Facebook gefeiert wird, ist mehr als bizarr. Seit dem Börsengang des Social Networks stieg der Druck, ROI zu produzieren, unaufhörlich. Eben deshalb vervielfachte Facebook auch die Anzahl an Werbeformaten und Sponsoring-Optionen spürbar. Mit Einführung von Sponsored Content im Mai 2012 wurde neben klassischen Ads z.B. auch die Möglichkeit angeboten, Content-Schnipsel auch an Facebook User auszusteuern, obwohl diese nie Fan der damit verbundenen Seite wurden.
Das Resultat war offensichtlich und es war von Facebook wohlkalkuliert: indem die Anzahl, Vielfalt und die Usability von Werbeformaten maximiert wurde, stieg auch die Menge der Marken- und Medienkunden, die dem System Facebook vertrauten und nutzten. Gleichzeitig sank die Relevanz für den Endverbraucher: Eine von Facebook selbst verursachte Ad-Inflation nahm ihren Lauf.
Im Rahmen dieser sich selbsterfüllenden Prophezeiung steht jetzt der letzte Schritt an. Aus der relativ sicheren Warte eines Monopolisten besteuert Facebook die Interaktion mit aufgebauten Marken-Communities nun ein zweites Mal. Vor Jahren hat man Unternehmen ja schon einmal erzählt, dass sie Media-Geld in den Aufbau ihrer Communities investieren müssten. Nun lässt man sich auch die Interaktion bezahlen: Eine Unglaublichkeit, die Facebook als eine Art unverrückbares Naturgesetz darstellt. Noch unglaublicher, dass diese These auch noch von vielen Kollegen so gekauft wird.
Die Mär, nach der guter Content auch weiterhin gewinnt, stimmt nicht. Wer gesehen werden will, muss zahlen.
Ganz gleich, ob man als global agierender Mega-Konzern, als kleiner Blogger oder als eBay Powerseller mit einer Facebook-Präsenz agiert: Facebook bittet ab jetzt alle zur Kasse. Und das nicht etwa, weil Marken zu viel Spam verbreiten, sondern weil Facebook selbst das Tor zu radikalem Paid-Media-Wildwuchs geöffnet hat und damit dauerhaft organischem Content den Boden entzogen hat: Zum Schaden von vielen Marken, die in Treu und Glauben wirklich an eine neue Zeit geglaubt haben und die sich mit Facebook auf die Reise machen wollten.
Schade eigentlich.