
Markenführung:
Produktpiraterie als Weckruf für Werber und Marketer
Werbungtreibende und Agenturen verheddern sich in Kanaldebatten und Umsetzungsdiskussionen und vernachlässigen dabei das Wichtigste: die strategische Markenarbeit. Die aber bräuchte es, um der blühenden Branche der Produktpiraterie den Boden zu entziehen, warnt Benedikt Holtappels, der CEO von GGH Mullen Lowe.
Werbungtreibende und Agenturen verheddern sich in Kanaldebatten und Umsetzungsdiskussionen und vernachlässigen dabei das Wichtigste: die strategische Markenarbeit. Die aber bräuchte es, um der blühenden Branche der Produktpiraterie den Boden zu entziehen, warnt Benedikt Holtappels, CEO der Agentur GGH Mullen Lowe, im Gastbeitrag für W&V Online.
Vor Kurzem wurde am Rande der Konsumgütermesse Ambiente in Frankfurt zum 40. Mal der Plagiarius vergeben. Dieser wenig ehrenhafte Preis geht an Produzenten, die besonders dreist bei der Konkurrenz abgekupfert haben und billige Kopien meist teurer Markenartikel auf den Markt werfen. Eine ganze Industrie steht mittlerweile hinter Produktplagiaten. Die Fälscher kommen vorwiegend aus China, Tschechien, aber auch aus Deutschland. Allein der deutschen Industrie entsteht durch Produktfälschungen laut einer Untersuchung der Wirtschaftsprüfung EY ein Schaden in Höhe von 56 Milliarden Euro pro Jahr. Kopiert werden dabei Brillengestelle ebenso wie Bad-Armaturen, Schmuck oder begehrte Handtaschen von Luxusherstellern.
Fast jeder zweite Konsument gab bei der Befragung von EY zu, schon mal eine Fälschung gekauft zu haben oder sich zumindest vorstellen zu können, ein nachgemachtes Produkt zu kaufen. Das mag ziemlich bitter sein. Und natürlich liegt diese Einstellung auch daran, dass sich viele Menschen teure Marken nicht leisten können. Dennoch sind die Plagiate im Grunde für die Marken auch ein Glücksfall. Zeigen sie doch, dass Marken im Zeitalter von Sharing und Downsizing längst nicht ausgedient haben, sondern immer noch Begehrlichkeit wecken. Allerdings sollten die Hersteller von Marken die Produktpiraterie als eine Art Wake-up-Call verstehen. Denn wenn Verbraucher den Eindruck gewinnen, billige Plagiate könnten das Original ersetzen, haben wir alle miteinander einen schlechten Job gemacht.
Marken sind Ikonen und leisten Orientierungshilfe im Dickicht eines unübersichtlichen Angebots. Wenn Marken diese Funktion verlieren, wenn sie nicht mehr klar machen, worin ihr emotionaler Mehrwert und ihre Substanz besteht, nährt das die Industrie der Nachahmer. Möglicherweise haben wir uns in den letzten Monaten im Zuge der Digitalisierung zu sehr damit beschäftigt, welche Kanäle wie bedient werden sollen, was Content-Marketing ist und was nicht, ob Earned Content Paid Content ersetzen wird etc. und haben darüber vergessen, dass wir uns zu allererst um das strategische und langfristige Fundament kümmern müssen. Also für welche Werte steht eine Marke und das Unternehmen dahinter, wie grenzt sich die Marke vom Wettbewerb ab, wie vermittelt man die Wertarbeit und die Innovation, die hinter den Produkten steht, und damit den Grund, warum Verbraucher tiefer in die Tasche greifen sollen, um das Original und nicht die Fälschung zu kaufen.
Stimmt, das ist Basisarbeit. Mein Eindruck ist aber, dass sich sowohl die werbungtreibende Industrie als auch die Agenturen zu sehr in Umsetzungsdiskussionen verheddert haben, anstatt mit einem langfristigen Gesamtmarkenkonzept zu agieren. Es wird Zeit, die Notbremse zu ziehen und sich wieder auf klassische, strategische Markenarbeit zu besinnen. Denn die Tatsache, dass Verbraucher inzwischen eine Aufmerksamkeitsspanne unter der eines Goldfisches aufweisen, wird ganz sicher nicht morgen verschwinden. Marken sind nur dann erfolgreich und können ein entsprechendes Pricing vornehmen, wenn sie eine smarte Verknüpfung von einer relevanten Markenidee mit einer aufmerksamkeitsstarken Markenpräsenz eingehen. Dabei geht es darum, einen auf der zentralen Brand-Idea basierenden Look & Feel passgenau zu inszenieren. Und nicht umgekehrt. Klingt einfach, gelingt aber derzeit den wenigsten Werbungtreibenden, weil sie sich zu sehr von Kanaldiskussionen treiben lassen. Doch neben einem kohärenten Markenversprechen erwartet der Konsument noch mehr: Eine Marke muss heute in Vorleistung gehen, also erst etwas tun, bevor sie darüber kommuniziert. Dann, aber auch erst dann, führt die Kombination aus Markenidee und Markenpräsenz zu dem, was wir bei GGH Mullen Lowe "Unfair Share Of Attention" nennen. Also aus dem allgemeinen Markenbrummen aufzutauchen, um wirklich die ungeteilte Aufmerksamkeit des Konsumenten zu gewinnen.
Wenn wir das wieder verstärkt hinbekommen, lösen wir damit auch noch ein anderes Problem. Nämlich, dass Werbung immer selbstähnlicher und mainstreamiger wird, statt auch durchaus mal polarisierend und eigenständig auf die Marke und deren Benefits einzuzahlen. Man stelle sich mal vor, wir hätten wieder Werbeblöcke, bei denen man sich nicht nach jedem Spot fragt, für welche Marke gerade geworben wurde, und die einen emotional mitreißen. Ja, mir ist durchaus klar, bei dem einen oder anderen Produkt könnte das eine knifflige Aufgabe sein. Aber genau dafür sind wir Kommunikationsberater ja da: Unseren Kunden dabei zu helfen, das Beste aus der Marke herauszuholen, und das selbstbewusst und deutlich gegenüber Verbrauchern zu kommunizieren, würde unsere Rolle und unser Standing ganz nebenbei auch wieder deutlich aufwerten.
Über den Autor:
W&V-Kolumnist Benedikt Holtappels ist Mitgründer und CEO der Hamburger Werbeagentur GGH Mullen Lowe.