
KOLUMNE VON BENEDIKT HOLTAPPELS:
Schluss mit dem Diktat ewiger Jugend in den Agenturen!
In den USA und England sind gute Texter und Top-Berater auch mit 60 noch heiß begehrt. Doch in der heimischen Werbebranche gelten Leute ab 40 als zu alt. Was für ein Irrsinn. War for Talents? Die Agenturen haben sich ihre Probleme selbst geschaffen, klagt Benedikt Holtappels, der CEO von GGH Lowe.

Foto: GGH/Lowe
In den USA und England sind gute Texter und Top-Berater auch mit 60 noch heiß begehrt. Doch in der heimischen Werbebranche gelten Leute ab 40 als zu alt. Was für ein Irrsinn. War for Talents? Die Agenturen haben sich ihre Probleme selbst geschaffen, klagt Benedikt Holtappels, der CEO von GGH Lowe.
Einer der Vorteile, als Agentur zu einem Network zu gehören ist, dass man unheimlich viel mitkriegt, wie unsere Branche in anderen Ländern tickt. Man beginnt ganz automatisch darüber nachzudenken, ob die Dinge in der deutschen Werbebranche eigentlich so bleiben müssen, wie sie sind.
Nehmen wir etwa das große Thema demographischer Wandel, das Medien, Arbeitsmarktexperten und auch jeden von uns ganz privat umtreibt. Die deutsche Gesellschaft schrumpft seit geraumer Zeit. Laut einer Bertelsmann-Studie werden wir in Deutschland bis 2030 eine halbe Million weniger Menschen sein, also auch weniger Arbeitskräfte. Ob deren Qualifikation und Know-how durch die Flüchtlinge ersetzt werden kann, muss sich erst noch zeigen. Hinzu kommt die Rentenlücke. Wir alle müssen länger arbeiten, um unseren Lebensstandard zu finanzieren. Bis 2030 wird die Hälfte der Bevölkerung über 48 Jahre sein.
Komisch ist nur, dass unsere eigene Branche noch immer so tut, als ginge sie diese Veränderung nichts an. Dabei haben wir alle längst Probleme, tolle Talente für uns zu begeistern, weil wir in Konkurrenz zu den guten Angeboten der Industrie stehen. Mal abgesehen davon verschreibt sich die junge Generation längst anderen Werten: Eigenverantwortung, Teamkultur, gute Führung und neue Arbeitszeitmodelle sind für sie viel wichtiger als der nächste Titel auf der Hierarchiestufe. Wir haben uns selbst die Probleme geschaffen, indem wir junge Kreative und Berater immer früher befördert haben, egal ob es ihnen wirklich gut tat oder nicht, sie schon bereit waren, Personalführung zu übernehmen oder nicht, sie gegenüber einem Kunden genug Standing aufbrachten oder nicht. Damit haben wir weder ihnen noch uns einen Gefallen getan. Denn den Leuten fehlen irgendwann die Perspektiven, weil sie schon früh am Ende der Titelhierarchie angekommen sind - und uns fehlen die Leute, die im Mittelbau die Projekte der Kunden ganz konkret ausarbeiten. Darüber hinaus gelten in unserer Branche Leute ab 40 eigentlich schon fast als zu alt. Was für ein Irrsinn.
Wenn ich mich in meinem Network etwa in den USA und England umschaue, sehe ich eine völlig andere Situation. Da begegnen mir reife Berater 60+, die zufrieden sind, einen Kunden exzellent zu bedienen, ohne dass sie dafür einen besonderen Titel auf der Hierarchieleiter brauchen. Ich habe Texter getroffen, die Ende 50 waren und mit ihren Fähigkeiten bei Agentur und Kunden eine hohe Wertschätzung genießen, ohne Ambitionen auf die oberste Führungsspitze zu haben. Es ist in anderen Ländern völlig ok, als Werber zu altern, ohne sich gleich als alter Sack zu fühlen, den alle aus Mitleid mit durchschleppen müssen.
Wie einfach könnten wir unsere Nachwuchsprobleme lösen, wenn wir endlich aufhören würden zu denken, es müsse immer höher und weiter gehen. Wenn ein Texter happy ist bis zum Ende seiner Karriere einfach geile Texte zu schreiben, warum sollte er das nicht tun? Wenn ein AD keine Lust hat, ein Team zu führen, sondern stattdessen sein Talent immer weiter verfeinert, kann das auch nur gut für den Kunden sein. Und wir könnten vermutlich mehr Frauen, die Mütter sind, zurückgewinnen, weil die Arbeitsverteilung eine andere wäre. Die vielzitierte Diversity würde auch in die Etagen von Werbeagenturen einziehen können. Denn Qualität, Know-how in der Tiefe werden in unserer Branche ja immer wichtiger angesichts der komplexen Aufgaben. Und nicht jeder ist zum Leitwolf geboren, das ist auch klar. Wir würden uns außerdem endlich von dem Diktat ewiger Jugend verabschieden, das ohnehin nicht mehr zeitgemäß ist.
Auch wir bei GGH Lowe haben noch keine fertigen Antworten, aber eins ist klar: Für uns hat das Thema, wie die Teams der Zukunft aussehen in 2016 oberste Priorität. Es ist Zeit, dass wir alle aus dem bloßen Lamentieren über neue Arbeitsformen und Teamaufstellungen rauskommen und uns endlich der veränderten Realität stellen. Die spannendste Zeit liegt noch vor uns.
Über den Autor:
W&V-Kolumnist Benedikt Holtappels ist Mitgründer und CEO der Hamburger Agentur GGH Lowe.