Koch-Mehrin, die nicht die Betroffene und nicht die Parteifreundin Brüderles gibt, findet klare und sachliche Worte: Frauen wollen sich nicht mehr wehren müssen, entgegnet sie Bruhns, die in den Raum schleudert, Frauen seien ja keine armen Gejagten - und ob man Männern die Arme abhacken wolle? In der aktuellen Debatte gehe es vielmehr um Problembewusstsein und die Bereitschaft, aufeinander einzugehen, sagt Koch-Mehrin. Genau wie Wizorek und Schwarzer versucht sie, die Gesprächsrunde immer wieder auf ihren Kern zu bringen: Über Brüderles Verfehlungen gehe der Aufschrei weit hinaus.

Tatsächlich hat der ungeschickte Polit-Profi nur das Fass zum Überlaufen gebracht: Aus der Anekdote Laura Himmelreichs im "Stern"und dem kurz zuvor veröffentlichten Bericht von "Spiegel"-Redakteurin Annett Meiritz über Sexismus bei den Piraten entstand deshalb eine Welle der Empörung, weil scheinbar Alltägliches nicht mehr klaglos hingenommen wird und weil die Frauen gerade feststellen, dass vermeintlich überwundene Diskriminierung kein Problem ist, das sie allein haben. Über des plumpe Verhalten eines Spitzenpolitikers geht das Thema weit hinaus. Was es den Brüderle-Freunden Bruhns und Karasek schwer macht.

Alice Schwarzer bei Jauch hat den klarsten Blick dafür, was sich in der Welle der Empörung und in Aktionen wie #Aufschrei ausdrückt: Die heutige Generation Frauen ist aufgewachsen in dem Bewusstsein, dass ihre Kämpfe schon ausgefochten sind, dass sie sich nicht auf das Niveau der Feministinnen begeben müssen, sondern alles erreichen und dazu hübsch aussehen können, ganz Frau sein und erfolgreich im Beruf. Und nun stellen diese Frauen fest: "Die Kacke ist noch am dampfen." Und der Kampf noch nicht zu Ende. Als ich das höre, fühle ich mich ertappt, denn auch ich habe mir den Luxus erlaubt, über Emanzen die Nase zu rümpfen: So verbissen wollte man ja auch nicht auftreten, die Gesellschaft hat ihre Schuldigkeit getan und sich verändert zu Gunsten der Frauen, den Rest muss jede für sich in ihrem Umfeld klären. Dass das so einfach nicht ist, zeigt sich jetzt: Der respektvolle Umgang miteinander ist noch nicht in allen Köpfen angekommen.

Anne Wizorek kämpft genau dafür und macht das in Jauchs Talkrunde tapfer gegen Widerstände deutlich: Als ihr eine bizarr wirkende Wibke Bruhns an den Kopf wirft, man könne doch die Männer nicht ändern, ohne sie zu kastrieren, kontert die Aufschrei-Initiatorin trocken: "Wir müssen Verantwortung übernehmen." Was sei denn am respektvollen Umgang untereinander abzulehnen? Und nein, es gehe nicht darum, dass Männer mit Frauen nicht flirten dürfen. Aber Machtausübung ist eben nicht in Ordnung, in keiner Richtung. Auch wenn es Hellmuth Karasek, der einen Altherrenwitz erzählt, nicht gefällt, dass eine Frau gern selbst entscheidet, mit wem sie flirten will und mit wem nicht.

Das eigene Handeln zu reflektieren dürfe man von Menschen erwarten, sagt Wizorek. Thomas Osterkorn findet eine gute Richtlinie für angemessenes Verhalten: "Wenn sich jeder so verhält, wie er möchte, dass man sich gegenüber seiner Frau und Tochter verhält, ist viel erreicht." Seine Hoffnung, und die hegen viele der mehr als 60.000 Twitterer, Männer wie Frauen, die sich an #Aufschrei beteiligt haben: "Diese Debatte verändert was." Frauen würden selbstbewusster und forderten ihre Rechte ein, "das ändert die Männer, die lernen, dass es Grenzen gibt." Und das ist das Thema. Davor, dass es immer noch eines ist und mitnichten überwunden, dürfen Männer und Frauen die Augen nicht verschließen.

Die ganze Sendung hier in der ARD-Mediathek.


Autor: Susanne Herrmann

schreibt als freie Autorin für W&V. Die Lieblingsthemen von @DieRedakteurin reichen von abenteuerlustigen Gründern über Medien und Super Bowl bis Streaming. Marketinggeschichten und außergewöhnliche Werbekampagnen dürfen aber nicht zu kurz kommen.