Das Festival ist so professionell organisiert wie immer, Neuankömmlinge und Cannes-Debütanten dürften sich besser aufgehoben fühlen als früher: Die Lions haben am Flughafen und überall auf dem Festivalgelände Infoschalter zum Thema "How to Cannes" aufgebaut, Mitarbeiter helfen in allen Fragen weiter. Einen roten Faden fürs eigene Programm bekommt man am besten über die Cannes-App, in Zweifel hilft ein Cannes-Chatboot via Facebook-Messenger weiter. Wer will, kann 24 Stunden Cannes-Programm nonstop machen, angefangen von Yoga und Crossfit bei unterschiedlichen Anbietern morgens.

Das Thema Nr. 1 ist Diversity

Die großen Sponsoren und Partnerfirmen sind ebenfalls alle wieder da, darunter Facebook, Adobe, Spotify, Medialink, Shazam und Youtube. Bis vor zehn Jahren war Cannes den Kreativen aus der Werbung vorbehalten, mittlerweile trifft sich die gesamte Markenindustrie an der Croisette. Bei den Kunden erfreuen sich die Cannes Lions seit ein paar Jahren wachsender Beliebtheit, aus Deutschland sind unter anderem Vertreter von der Deutschen Bahn, Hipp, Audi und Volkswagen vor Ort. Der deutsche Festivalrepräsentant Werbe Weischer hat die Woche über erstmalig einen eigenen Strandabschnitt als Anlaufstelle für alle deutschen Teilnehmer geöffnet (mehr zum Cannes Lions-Programm gibt es in der aktuellen W&V-Titelgeschichte).

Die Stimmung in Cannes ist gut und entspannt dieses Jahr. Inhaltlich gefeiert wird vor allem ein Thema: Diversity. In jeder Hinsicht übrigens. Vor allem geht es dabei um Frauen und ihre Bedeutung in der Kreativindustrie, aber auch um gesellschaftlichen Status und, ja, auch um Hautfarben. Twitter-Kreativchef Jayanta Jenkins etwa sprach mit anderen afroamerikanischen Chefs über die Bedeutung von Diversity in Unternehmen, auch Facebook hat sich mit seinem Programm dem Thema in Cannes verschrieben. Es drängt sich die Frage auf, ob das Thema gerade 2017 tatsächlich brisanter ist denn je, oder ob es sich um ein allgemein wichtiges Thema handelt, mit dem die Cannes-Veranstalter zugleich ein überschaubares Risiko eingehen. Beides trifft zu.

Enttäuschendes Abschneiden der Deutschen

Verhalten äußern sich bis dato die deutschen Cannes-Teilnehmer. Denn in Sachen Cannes-Löwen lässt sich vermuten, dass die deutschen Werber dieses Jahr nicht ganz so viel gewinnen dürften, wie in der Vergangenheit. In der Regel sind die ersten Juryentscheidungen der Woche in Kategorien wie Direct, Public Relations, Promo & Activiation richtungsweisend für den Verlauf der restlichen Cannes-Woche - und da fallen Arbeiten aus Deutschland bislang wenig auf. Einen Grand Prix konnte bislang lediglich Grey in der Health-Konkurrenz gewinnen, abgesehen von einer Goldmedaille für Scholz & Friends kommen die deutschen Arbeiten bis dato kaum über Bronze und Silber hinaus.

Awards & Aufreger

Dafür gibt es bereits klare Favoriten für die erfolgreichsten Arbeiten, allen voran die Arbeit "Meet Graham" von Clemenger BBDO. Es hatte kurz "Aufregung" gegeben, weil die Arbeit an ein Projekt aus den 80er Jahren erinnern soll, richtig ernst genommen hat das allerdings keine Jury. "Wir sind hier, um exzellente Kreativität zu küren und nicht, um unsere eigenen Ideen zu killen", sagt Colleen DeCourcy, CCO von Wieden+Kennedy und Vorsitzende der Cyber-Jury.

Wer erwartet hatte, dass dieses Jahr in Cannes die ganz großen VR- und AI-Projekte zu sehen sind, wird übrigens enttäuscht. Die Technik entwickelt sich zwar weiter, die großen und überzeugenden Kreativideen dazu fehlen allerdings. In der Rubrik Mobile holt eine Arbeit den Grand Prix, die mit Virtual Reality nichts zu tun hat: Das Projekt trägt den Titel "The Family Way" (Agentur: Dentsu Y&R, Tokyo). Die dazugehörige Handy-App kann Sperma analysieren und Fertilitätsprobleme erkennen. Kein Witz, ein männliches Mitglied der Mobile-Jury hat getestet, ob das Ganze funktioniert.

Die meisten großen Arbeiten haben mit erweiterten Kontexten zu tun. Humor und kleine, subtilere Projekte kommen bisher zu kurz. Alles als Zwischenstand, noch stehen die Gewinner in vielen Kategorien wie Film, Radio und Integrated noch nicht fest.

Kritik von Juroren

So manche Kritik kommt von den Juroren. Die Cannes Lions haben ihr Juryverfahren geändert, vieles wurde dieses Jahr also bereits in den Prä-Jurierungen im Vorfeld zu Hause festgelegt. Das führt allerdings auch dazu, dass mitunter gerade einmal vier Jurymitglieder eine Arbeit gesehen haben und sie es deshalb nicht in die Endausscheidung schaffte. Auffällig ist außerdem: Es gibt von Cannes-Lions-Seite her Ansagen, was die Anzahl der vergebenen Grands Prix pro Kategorie angeht. Die Zahl bemisst sich nach der Anzahl der Einreichungen. Keinen Grand Prix zu vergeben, dürfte manche Jurys ein starkes Rückgrat abverlangen.

Von Mittwoch an geht es hier an der Croisette erstmal weiter mit den Rubriken Entertainment, Media, Design und Musik. Vielleicht klappt es ja da mit ein paar mehr Medaillen.

Laufend auf dem aktuellen Stand bleiben Sie mit dem W&V-Liveblog direkt aus Cannes: Dort finden Sie auch alle Gewinner und den Medaillenspiegel.


Autor: Daniela Strasser

Redakteurin bei W&V. Interessiert sich für alles, was mit Marken, Agenturen, Kreation und deren Entwicklung zu tun hat. Außerdem schreibt sie für die Süddeutsche Zeitung. Neuerdings sorgt sie auch für Audioformate: In ihrem W&V-Podcast "Markenmenschen" spricht sie mit Marketingchefs und Media-Verantwortlichen über deren Karrieren.