"Cannes ist ein Kategorie-Monster"

Der erste Satz deiner Eröffnungsrede zum diesjährigen Festival lautete: "We are a charity". Offensichtlich ist es dir sehr wichtig, dass der D&AD gemeinnützig arbeitet und weniger auf Profit bedacht ist?

Nun, natürlich geht es um Profit. Wir müssen ja auch Geld verdienen. Nur so können wir all das tun, was wir uns in Sachen "wohltätige Zwecke" zum Ziel gesetzt haben. Damit heben wir uns im Übrigen auch von den wichtigsten Konkurrenten ab. Nicht vom One Club, der ebenfalls wohltätigen Zwecken dient, oder von seinem amerikanischen Äquivalent. Aber von Cannes auf jeden Fall. Cannes ist ein Kategorien-Monster. Keine Frage: Das Cannes-Team macht einen sehr guten Job ...

... ein Kategorien-Monster?

Naja, sie pressen Geld aus der Branche. Gleichzeitig gilt: Cannes hat der gesamten Branche einen großen Gefallen getan, indem kreative Exzellenz durch sie überhaupt erst zum Thema für die Kunden wurde. Wir beim D&AD wollen ja vor allem für die Kreativen da sein. Natürlich begrüßen wir es, wenn sich Kunden auch für das begeistern, was wir tun, aber wir geben uns keine besondere Mühe, die Kunden-Community zu umwerben.

Du bist der CEO des D&AD. Reden wir mal über Titel. Ich beobachte in Deutschland einen regelrechten Titel-Wahnsinn. Manchmal sitzen Bewerber bei uns, denen es ganz offensichtlich nur darum geht, den nächsten, noch geileren Titel zu bekommen. Wir sagen dann "Wir möchten nicht, dass du mit deinem Titel wächst, sondern mit deinen Aufgaben." Wie ist deine Meinung dazu? Gibt es in unserer Branche zu viele Titel? Und welche sind relevant – welche nicht?

Hier in England nennen wir das "Title Inflation". Der Leiter der kreativen Abteilung in einer Werbeagentur hieß früher "Creative Director". Heute heißt auf einmal jeder "Creative Director", und der Leiter der Kreativabteilung ist dann eben der "Executive Creative Director". Aber inzwischen gibt es sogar davon mehrere; dann heißt der Leiter der Kreativabteilung eben "Chief Creative Officer". Das wird langsam lächerlich. Ich bin ja Berater, kein Kreativer. Mir hat es immer gefallen, ein "Account Director" zu sein, als es diese Bezeichnung noch gab. Als man tatsächlich für einen Teil des Geschäfts verantwortlich war.

"Manche Titel sind absurd"

Trotzdem gab es immer schon klare Hierarchien, oder?

Ja, man hatte natürlich trotzdem Vorgesetzte, aber man war selbst verantwortlich für die Qualität der Arbeit. Ich hatte das Glück, in den 80ern den Levi’s-Account bei BBH zu leiten. Ein großartiger Job. Man gehörte damals einfach einem tollen Team an, das wunderbare Arbeit leistete, und es war ganz egal, wie die Stelle hieß, die man besetzte. Heute sage ich den Leuten immer: "Wenn du nur zu einer anderen Agentur gehst, weil du da einen besseren Jobtitel hast, wenn du vorher 'Client Services Director' warst und jetzt auf einmal 'Managing Director' bist, das aber in einer viel kleineren Agentur, dann hast du hoffentlich ein paar verdammt gute Gründe dafür – und nicht nur den neuen Titel." Ich stimme dir zu, das ist einfach lächerlich. "Chief Creative Officer" zu heißen, ist sicherlich nicht schlecht, denn davon kann es in einer Organisation nur einen oder eine geben. Aber es gibt ein paar wirklich alberne Titel.

Was ist mit "Partner"?

Nun, es gibt Partner, die einen nennenswerten Anteil an einer Firma halten. Das ist okay. Aber ich kenne auch Partner, denen 0,001 Prozent einer Firma gehört, also ein Mikroanteil. Sowas ist doch absurd. Ein Titel, der wirklich aussagekräftig ist, ist zum Beispiel "Owner". Bei DDB durfte sich damals angeblich nur Bill Bernbach "Owner" auf die Visitenkarte schreiben. (lacht)

Zurück zum D&AD. Er gilt als der härteste Wettbewerb der Welt. Welcher Wettbewerb ist der leichteste?

(Lacht) Keine Ahnung. Ich denke, es ist einfacher, in Cannes einen Löwen zu gewinnen, als bei uns einen Pencil zu bekommen. Das lässt sich mit Zahlen belegen. Damit will ich die anderen gar nicht schlecht machen! Nein, ich bin froh, dass das für sie so gut funktioniert.

Vorletzten Sonntag wurde in Frankreich gewählt, Marien Le Pen erhielt über 21 Prozent der Stimmen. Zeitgleich tagten in London die ersten D&AD-Jurys. Wer hat an diesem Tag radikaler gewählt: das französische Volk oder die D&AD-Jurys?

(Lacht) Das weiß ich nicht. Natürlich wählen wir die Jurys aus, wir ernennen die Juryvorsitzenden, wir managen die Jurys – aber die Jury-Manager, die dem D&AD angehören, haben keinen Einfluss auf die Jury-Entscheidungen. Wir machen ein Briefing, wir setzen ein paar einfache Kriterien fest, und dann lassen wir die Jurys machen. Ich gehe davon aus, dass den Jurys bewusst ist, welche Standards der D&AD seit jeher setzt, und dass sie genau wissen, welche Verantwortung auf ihren Schultern liegt. Aber verantwortlich für das Ergebnis sind letztlich die Juroren und nicht wir.

Gab es mal ein Jahr, in dem die Juroren dachten, sie müssten so radikal sein, dass sie vor lauter Radikalität überhaupt keine Pencils verliehen haben?

Nein. Dieses Jahr gab es 26 Kategorien, letztes Jahr waren es 27, und in jedem Jahr gibt es mindestens eine Kategorie, in der kein Yellow Pencil verliehen wird. Sowas kommt vor. Und einmal alle 6 oder 7 Jahre passiert es, dass die Juryvorsitzenden, wenn sie sich gemeinsam alle Yellow Pencils angucken um zu beschließen, wer einen Black Pencil bekommt, dann gar keinen Black Pencil verleihen. Ich glaube, vor 4 Jahren gab es keinen einzigen Black Pencil. Wir legen auch keine Quoten fest, die Gesamtzahl der Pencils kann zwischen 600 und 800 liegen, bei den Yellow Pencils so zwischen 45 und 60, bei den Black Pencils meist zwischen 0 und 5. Es ist ganz wichtig für uns, dass wir keine Quoten festsetzen und die Jurys in keiner Weise beeinflussen.

Gibt es Kategorien, die britischer geprägt sind als andere?

Möglicherweise. Aber wir sind der Meinung, dass wir die Balance ganz gut hinbekommen. Das klingt vielleicht etwas arrogant, aber der D&AD ist nun einmal eine durch und durch britische Angelegenheit. Ich glaube, britische Werbung und britisches Design sind immer noch hoch angesehen, und ich glaube, Menschen wollen von Menschen beurteilt werden, die sie respektieren.

Du hast eben erwähnt, dass der D&AD dieses Jahr die Zahl der Kategorien verringert hat. Ist das zum ersten Mal passiert? Und um wie viele Kategorien habt ihr reduziert?

Nur um eine einzige. Ich glaube, wir haben Branding und Graphic Design zusammengefasst.

Immerhin. Sonst expandieren ja immer alle ...

Das tun wir auch, wir haben letztes Jahr Media und PR hinzugefügt, und das war ein großer Erfolg, denn wir glauben, dass eine ganze Menge originelle, kreative Gedanken momentan außerhalb der Kreativabteilungen entstehen, und das wollen wir auch abbilden. PR ist sowieso eine hochinteressante Angelegenheit – da trifft empirischer Content auf langformatigen Content.

Fast jede erfolgreiche Agentur wird groß und langweilig

Du kommst aus der Kundenberatung. In Deutschland fällt auf, dass das Denken, also die inhaltliche Arbeit an der Marke, vermehrt von Plannern und Strategen übernommen wird. Die Berater konzentrieren sich immer häufiger auf formale Aufgaben, organisieren die Prozesse, machen die Termine ...

Was du beschreibst, ist nichts Anderes, als dass die Rolle des Account Managers mehr und mehr aus der Wertschöpfungskette verschwindet. Und das stimmt auch. Das ging in den USA los, als die Kreativen begannen, ihre Arbeiten den Kunden selbst zu präsentieren. Als ich CEO von Lowe war, da bekam niemand aus der Kreativabteilung – nicht einmal der wunderbare ECD Paul Weinberger – jemals einen Kunden zu Gesicht. Paul hatte zwar eine sehr gute Beziehung zu seinen Kunden, das schon, aber es war schließlich unsere Aufgabe, die Aufgabe der Berater, die Arbeit zu verkaufen und zurückzukommen und stolz zu verkünden: "Wir machen die Kampagne!" Als ich bei BBH war und den Levi’s-Account führte, produzierten wir während dieser Zeit 11 Werbespots und präsentierten dem Kunden 12 Skripte. Und bei Lowe hatten wir damals den stark umkämpften Account von Stella Artois, da war das ganz ähnlich: Wir produzierten 6 Werbespots in 6 Jahren und präsentierten 6 Skripte, also wurde jedes einzelne umgesetzt.

Respekt. Das spricht sehr für die damalige Agenturkultur, die du erlebst hast. Ich habe den Eindruck, dass sich die meisten Agenturen heute nur noch – wenn überhaupt – durch ihre Kultur unterscheiden. Jede Top-Agentur gewinnt mal ein großes Neugeschäft oder einen goldenen Löwen – lediglich die Art und Weise, wie sie das tun, unterscheidet sie voneinander.

Ich stimme dir vollkommen zu. Die Agenturen gleichen einander viel mehr, als dass sie sich voneinander unterscheiden. Sie unterscheiden sich durch ihre jeweilige Kultur und natürlich durch die Menschen, die dort arbeiten. Am Anfang sitzen 3 bis 5 Leute um einen Küchentisch herum und wollen die Welt verändern. Sie machen alles anders als alle anderen und natürlich auch besser, und das wird alles ganz fantastisch, und sie denken ja gar nicht daran, ihren Laden irgendwann an WPP zu verkaufen. Wenn man dann als Agentur größer wird, wird es immer schwieriger, die eigene Haltung beizubehalten. Man wird früher oder später in eine Form gepresst, die der Wettbewerb vorgibt. Wenn man wächst, erst mit 50 Angestellten, dann mit 100, dann mit 150, hat man irgendwann einen eigenen Bankberater, dann sind da die Kunden, das ökonomische Umfeld … Stell dir mal einen Quadranten vor (malt einen Quadranten auf seine Serviette) Hier oben links ist "klein und sexy", hier unten rechts ist "groß und langweilig". Das Schwierigste ist es, groß und sexy zugleich zu sein. Das ist wirklich, wirklich schwierig. Dazu braucht man einen sehr geschickten Manager. Einen Manager, der aus der Kultur des Unternehmens stammt und der dafür einsteht, den Ethos beizubehalten, auf dessen Grundlage die Agentur gegründet wurde. Das müsste eigentlich ganz selbstverständlich sein, aber genau das haben nur wenige Agenturen hinbekommen. BBH zum Beispiel gelingt es in diesem Markt seit 25 Jahren, gleichzeitig groß und erfolgreich und sexy und gut zu sein. Aber am Ende sind doch alle ganz da unten (zeigt auf das untere rechte Feld des Quadranten) Das ist eine etwas deprimierende Vorstellung, aber so ist es nun einmal. Dasselbe Prinzip lässt sich auf Technologie-Unternehmen anwenden – Facebook, Twitter, Instagram, Snapchat. Und es gilt sogar für Hersteller: Apple ist das größte Unternehmen der Welt und hat noch immer Erfolg, aber am Ende werden sie in der Masse untergehen und genauso werden wie alle anderen, und ein neuer Konkurrent erobert den Markt. Das ist so unausweichlich wie die Erdanziehungskraft.

Was ist demnach die beste Größe für eine Agentur?

100 Mitarbeiter.

Oh Gott, wir sind schon knapp 300 ... Warum denn genau 100?

Weißt du, warum die römische Armee in Zenturien in Einheiten von jeweils 100 Mann unterteilt war? Die Römer waren ja nicht ganz dumm. Sie haben festgestellt, dass 100 die größte Anzahl an Menschen ist, die als Gruppe funktioniert. Bei der alle noch eine Art Zusammenhalt empfinden. Und es ist die größte Anzahl an Menschen, die ein Anführer mit Namen anreden kann und über die er jeweils noch etwas Persönliches wissen kann. Vielleicht klappt es noch mit 120, aber wenn es mehr werden, unterteilt sich das Ganze automatisch in kleinere Gruppen, und die Führung wird schwieriger, die Chefs sondern sich ab …

Letzte Frage: Was können und sollten junge Römer, sorry, Kreative deiner Meinung nach vom D&AD lernen?

Nur eines: Wenn man Talent hat, gibt es immer einen Weg hinein in unsere Branche, ganz egal, woher man kommt. Wenn man wirklich Talent hat, wird man sich in der Kreativindustrie auch behaupten. Das würde ich jungen Leuten gerne vermitteln: Hast du Talent, solltest du dein Talent fördern, dann wirst du deinen Weg gehen. Und vielleicht können wir dir auf diesem Weg ein wenig helfen.

Cool. Tim, vielen Dank für das Gespräch.


Autor: Sascha Hanke

W&V-Gastautor Sascha Hanke hat es sich früh angewöhnt, bei erstklassigen Kreativagenturen zu arbeiten. Er startete als Texter bei Springer & Jacoby und stieg bei Jung von Matt zum Kreativdirektor und zum Geschäftsführer Kreation der Agenturtochter JvM/Elbe auf. 2012 wechselte er zu Kolle Rebbe, wo er mittlerweile Partner und Co-Kreativchef ist.