Ich hab vor etwas über drei Jahren mit "This Way Lies Mayhem" angefangen, kurz danach wurde in den USA das Thema SOPA/PIPA (Gesetzesvorlagen gegen Internet-Piraterie; Anm. der Redaktion) aktuell, wogegen sich die Amerikaner zum Glück gewehrt haben. Damals dachte ich, wenn ich das Buch nicht rasch herausbringe, wird es keine Zukunftsvision, sondern ein historisches Drama. 

Und nun stöbern NSA und britischer Geheimdienst via Angry Birds in unseren Handy-Daten …

In den drei Jahren sind schon viel mehr Dinge ans Licht gekommen, als ich mir hätte ausmalen können. Dabei hätte uns klar sein müssen, dass die NSA auch Sachen macht, mit denen wir nicht ganz einverstanden sind.

"This Way Lies Mayhem" spielt etwa in 40 bis 50 Jahren. Wird es wirklich so lange dauern, bis Ihre digitale Zukunft Realität wird?

Ich definiere das nicht genau im Buch, weil man die Entwicklung einfach nicht genau voraussagen kann - das Internet ist noch so jung, dass es noch nicht einmal Experten und Langzeitstudien gibt. Manche der geschilderten Ereignisse sind schon eingetreten, manche werden vielleicht nie eintreten, manche werden nicht eintreten, wenn wir uns jetzt dagegen wehren. Und wenn wir uns überhaupt nicht wehren, wird einiges vielleicht auch schon viel schneller passieren. 

Der Weg vom Internet, wie wir es kennen, zum total überwachten "Global Net" führt in Ihrem Roman über Profitgier, Leistungsschutzrecht, undurchsichtige AGBs und freies Wi-Fi überall. Die Weichen stellen wir also heute, mit Forderungen nach zum Beispiel freiem Wlan. Sollten wir das bleiben lassen? 

Ja, absolut. Ich hätte liebend gern jederzeit überall die beste Internetverbindung, und am liebsten würde ich natürlich wie jeder nichts dafür zahlen. Aber: Warum? Wichtiger für unser Leben ist zum Beispiel eine Wohnung, trotzdem kann ich jetzt nicht fordern: freie Wohnungen für alle. Es gibt einfach kein Recht auf freies Internet. Und freies Internet ist allein schon deswegen Humbug, weil wir am Ende über höhere Steuern doch wieder dafür zahlen würden.

Diese vermeintliche Freiheit führt in Ihrem Buch zu übermäßiger Kontrolle. Unter anderem durch Unternehmensinteressen und staatliche Überwachung. Schon heute bekomme ich aber gesponserte Inhalte günstiger oder gratis - oder freies Laden-Wlan.

Ich kann mich heute in das Café einer Buchhandelskette setzen mit kostenlosem Online-Zugang, kann aber von dort nicht auf alles zugreifen - der Anbieter hat die Möglichkeit zu sagen, wir sperren Seiten der Konkurrenz. Spätestens da muss man sich doch fragen, wie weit es mit der großen Freiheit her ist, wenn diejenigen, die mir diese Freiheit anbieten, sie gleichzeitig limitieren? 

Sie haben ein paar clevere online und vor allem mobile Werbeideen Ihrem Buch - da werden wir in Einkaufszentren auf Sonderangebote hingewiesen und die AR-Brille verwandelt das Kaufhaus in ein Computerspiel. Wobei ja die mobile Werbung noch an einigen Ecken krankt, zumindest heute …

... was seine Gründe hat. Natürlich hat Online ein enormes Potenzial für die Vermarktung. Ich selbst habe großen Spaß an gut gemachter Werbung. Aber die leidet an dem massiven Überangebot, als Nutzer bin ich aktuell von Online-Werbung vor allem genervt. Besonders Spam schadet – sowohl den Nutzern als auch den Werbungtreibenden - weil es nervt, abstumpft und so die Wirkung verwässert. Regeln würden beiden Seiten helfen. Und nur so kann ich in zehn oder 20 Jahren noch durch viel cleverere Werbung beeinflusst werden.

Die Verschmelzung von virtueller und tatsächlicher Welt, die Sie in "Mayhem" vorwegnehmen, wäre heute bereits machbar. Mit Spieletechnik wie Kinect, mit Erkennungssoftware wie der von Prime Sense, die Apple gekauft hat, Google Glass … Warum gibt es also Werbeformen wie die von Ihnen geschilderten noch nicht?

Weil viele Entscheidungsträger einfach noch zu viele Hemmungen haben. Ich kannte einmal einen Verlagsleiter, der noch vor wenigen Jahren überzeugt war, man könne mit dem Internet kein Geld verdienen. Womit er sehr Unrecht hat. Aber natürlich muss man es da anders anfangen als in Print. Und selbst Youtube und Google gehen nicht weit genug. Ich wäre zum Beispiel durchaus bereit, für ein Premium-Youtube zu bezahlen, wenn ich mir dort grenzenlos Videos anschauen kann, ohne von Werbung genervt zu werden.

Die Verlage und viele Internet-Firmen glauben ja nicht an Bezahlangebote. Sie schon?

Ja, es gibt momentan nur zu viele Entscheider, die nicht daran glauben oder die nicht durchhalten - man muss Mut und einen langen Atem haben! Der Nutzer muss sich erst mal daran gewöhnen. Ein anderes Problem ist aber das Bezahlsystem. Wenn es seine Möglichkeit gäbe, über ein oder zwei Bezahlsysteme mehrere konsumierte Inhalte verschiedener Anbieter abzudecken, ohne jedes Mal neue Nutzerkonten anlegen und Daten eingeben zu müssen, wäre ich als Nutzer viel eher bereit, für Online-Inhalte zu zahlen. Die Anbieter müssen das auf einen Nenner bringen und es dem Nutzer leicht machen, das zu bedienen.
(Anm. der Red.: Was etwa Apple aktuell zu wittern scheint - mehr dazu hier.)

Entscheider wenden an dieser Stelle ein: Das kostet Geld für Entwicklung, außerdem müssten wir uns mit anderen Anbietern absprechen und einigen …

Das darf aber nicht das Problem des Nutzers sein. Diese Entscheidung können die Unternehmen gern noch jahrzehntelang hinausschieben, sie lassen dabei aber Potenziale liegen, die sie längst nutzen könnten. Wenn ich Geld verdienen will, muss ich erst mal investieren. Da kann ich mich nicht hinstellen und sagen, ich verdiene ja mit meiner Zeitung schon seit zig Jahren Geld, sondern muss sich bewusst sein, dass das ein Neubeginn ist - und da muss ich eben zuerst investieren.

Viele Nutzer wiederum sind sich keiner Gefahr durch Überwachung bewusst - weil sie sich nichts zu schulden kommen lassen.  Für unsere Leser zitiere ich mal die Stelle aus Ihrem Roman: "Der Wunsch nach Privatsphäre ist kein Privileg der Schuldigen. Du kannst völlig unschuldig sein und dennoch nicht wollen, dass Leute ihre Nase in Angelegenheiten stecken, die sie nichts angehen, die Polizei oder sonst jemand. Du hast das Recht, nicht von vornherein wie ein Verdächtiger behandelt zu werden. Wer nichts zu verbergen hat, hat nichts zu befürchten - das ist die dümmste Aussage in der Geschichte der Privatsphären-Debatte."

Ja, das ist eine der Kernaussagen der Geschichte. Es gibt viele Leute, die sagen: "Ich hab ja nichts angestellt, also kann ruhig jeder meine E-Mails lesen." Das ist ein Argument – und zwar ein selten dämliches. Genauso könnte ich sagen, die Polizei muss jederzeit routinemäßig Wohnungen betreten dürfen, und Vorhänge und Jalousien schaffen wir auch gleich ab – denn wer nichts verbrochen hat, hat nichts zu verbergen. Blödsinn. Wir sind immer noch Menschen. Und Menschen haben ein Grundbedürfnis nach persönlichem Freiraum. Darum setzen wir uns im Wartezimmer oder in der Bahn nicht neben Fremde, wenn andere Plätze frei sind. Und dieses Bedürfnis besteht nicht nur physisch, sondern auch im Kopf. Wenn mir bewusst ist, dass bei jeder Nachricht – auch jedem noch so unverfänglichen "ich liebe dich" an meine Freundin – jemand heimlich über meine virtuelle Schulter schauen könnte, dann ist das ein beklemmendes Gefühl.

Haben die Leute das Bedürfnis nach Freiraum und Privatsphäre online wirklich noch? Wenn wir uns anschauen, was sie freiwillig im Social Web und in Foren alles preisgeben … da werden die Vorhänge nicht zugezogen.

Das ist zum einen aber die Entscheidung des Einzelnen und liegt zum anderen an dem oft fehlenden Verständnis für die Natur des Internets. Wenn ich etwas auf eine Internetseite stelle, kann das die ganze Welt lesen. Für mich ist das so klar wie "Wasser ist nass". Das gilt aber bei Weitem nicht für alle Nutzer. Es muss noch viel Aufklärungsarbeit geleistet werden, und man kann jedem nur raten – besonders Kindern: Sei vorsichtig, was du von dir im Netz preisgibst.

Dazu passt, dass sich aus Unwissenheit in Ihrem Buch beinah jeder früher oder später unfreiwillig strafbar macht und mit Netzsperre oder Haft bestraft wird.

Und das war in Frankreich schon Realität: Beim inzwischen wieder verworfenen Hadopi-Gesetz gegen Urheberrechtsverletzungen genügten anfangs drei Verdächtigungen, um einem Nutzer den Internetzugang zeitweise zu sperren. Zwischenzeitlich mussten dann zumindest Beweise erbrachten werden. 2013 wurde das Gesetz aber wegen Unverhältnismäßigkeit wieder außer Kraft gesetzt.

Dann ist ja alles gut?

Von wegen. Es gibt zahlreiche Beispiele, wo der aktuelle Status mehr als fragwürdig ist. Die Unterhaltungsindustrie schickt zum Beispiel sehr gerne Abmahnungen heraus, basierend auf einem System, das angeblich feststellt, wer was wann heruntergeladen bzw. zum Upload bereitgestellt hat. Nur dass dieses System eine erhebliche Fehlerquote hat. Kommt dann, zu Recht oder Unrecht, ein sehr böse formulierter Brief von einem teuren Anwalt, sagt der eine oder andere: "Ich weiß zwar nicht, was mein Kind im Internet anstellt, aber ich zahle das mal lieber, bevor es noch teurer wird." Das ist aus meiner Sicht moderne Wegelagerei, weil man mit der Unwissenheit und Angst der Leute spielt. Die Abmahnungen mögen zum großen Teil berechtigt sein, aber trotzdem muss eine sinnvollere Lösung gefunden werden.

Urheberrechte brauchen Schutz, das sind wir uns einig. Andererseits führt Kontrolle zu Problemen. Wie muss also eine Lösung aussehen?

Es gibt nicht die eine perfekte Lösung. Wie bei Gesetzen für die Offline-Welt wird es einen Kompromiss geben müssen. Über die nächsten Jahrzehnte müssen wir uns einer sinnvollen Lösung annähern, bei der sich sowohl die Industrie beschützt fühlt als auch der Nutzer nicht ausgenutzt wird. Nur: Die Industrie fängt bereits damit an. Wir müssen jetzt als Nutzer schon anfangen dagegenzuhalten, sonst gibt es sehr bald eine Gesetzgebung, die sehr einseitig auf die Industrie und die Politik ausgerichtet ist und zu sehr Richtung Machtausübung geht.  

"Selbst wer die Nutzungsbedingungen versteht", lassen Sie in Ihrem Buch einen Aktivisten sagen, "hat keine andere Wahl, als sie zu akzeptieren. Entweder gibt man seine Rechte ab, oder man ist nicht online."

Das kann nicht die Lösung sein. Die Lösung muss sein, dass wir ein Internet haben und es nutzen können, ohne uns allzu große Sorgen zu machen, aber im Moment ist das nicht der Fall. Seit etwa 20 Jahren klicken wir alle auf AGBs, die wir akzeptieren  - und keiner hat sie gelesen. Ob das der Online-Kauf ist, eine Software, ein Spiel, das ich mir herunterlade … 

Also was? 

Eigentlich müsste man da einen Präzedenzfall schaffen. Quasi Gewohnheitsrecht. Jeder weiß, dass keiner sich das Zeug durchliest. Und wenn wir alle Dingen zustimmen, die wir gar nicht gelesen haben, sollte das gar keine rechtliche Grundlage mehr bieten können. Wenn nun ein Unternehmen morgen seine AGBs ändert und etwa reinschreibt, das Hören der heruntergeladenen Musik zwischen 15 und 16 Uhr sei nicht erlaubt, sagt jeder Ja dazu, weil es einfach keiner liest. Und der Konzern kann sich im Nachhinein darauf berufen, dass der Nutzer zugestimmt hat. Und kassieren oder ihn verklagen. Das kann nicht sein.

Aber in den Alternativen sind wir sehr eingeschränkt, denn zum einen müsste ich alles lesen, zum anderen gegebenenfalls verzichten.

Die Frage ist doch, wofür braucht man diese Nutzungsregeln eigentlich? Wenn ich in ein Geschäft gehe und mir etwas kaufe, egal, ob das ein Buch oder eine CD oder ein Brötchen ist: Da verlangt niemand von mir, 20 Seiten Geschäftsbedingungen zu unterschreiben, bevor er mir das Produkt verkauft. Warum muss ich bei jedem Online-Shop jedes Mal alles lesen und zustimmen - oder warum muss ich jedes Mal, wenn ich mir ein Update von zum Beispiel iTunes herunterlade, die Geschäftsbedingungen neu akzeptieren?  

Eine Frage des Kopierschutzes, der online stärker in Gefahr scheint?

Wenn ich als Inhalteanbieter – und als Autor mit einem E-Book bin auch ich das – mit Nutzern zusammenarbeiten will und möchte, dass sie meinen Inhalt konsumieren und dafür bezahlen, dann muss ich ihnen ein gewisses Vertrauen entgegenbringen. Natürlich wird es immer schwarze Schafe geben, die etwas kopieren, statt es sich zu kaufen. Dafür habe ich online auch viel mehr Möglichkeiten. Dieses Risiko muss ich einfach eingehen. Der Gedanke, dieses Risiko ausschließen zu wollen und nur die Vorteile der digitalen Welt zu nutzen, ist für mich widersinnig.  

Sender wie HBO freuen sich sogar über illegale Downloads (W&V berichtete) …

Weil man bei HBO clever genug ist zu wissen, dass die Anzahl der illegalen Downloads nicht mit der Anzahl entgangener Verkäufe gleichzusetzen ist. Nur ein kleiner Prozentsatz dieser Zuschauer hätte auch dafür bezahlt. Außerdem weiß HBO, es einen gewissen Werbeeffekt gibt: Wenn sich jemand vier Folgen "Game of Thrones" illegal lädt und ihm das gefällt, will er vielleicht auf die fünfte nicht warten oder die Serie in einer besseren Bildqualität sehen - und kauft sie sich. Keiner kann einschätzen, wie hoch der Verlust im Gegensatz zum Werbefaktor ist. In Sachen Online-Piraterie ist ohnehin der Großteil Panikmache.    

Gegen Panik und für die Nutzerrechte kämpfen die jungen Leute in Ihrem Buch  - mit allen Mitteln. Widerstand ist Ihr Herzensanliegen?

Nicht der Widerstand um des Widerstands Willen. Aber wenn, dann sollte man sich einiger Dinge bewusst sein. Wie kämpft man überhaupt für die eigenen Rechte? Was muss man bereit sein zu opfern? Und wie weit ist "zu weit"? Außerdem ist es wichtig, dass wir nicht immer nur für die Dinge aufstehen, die uns selbst gerade auf der Seele brennen. Denn das führt zu vielen kleinen, erfolglosen Ein-Mann-Armeen. Ich trete für niemanden ein – und niemand tritt für mich ein. So bewegt man nichts. Und wenn das Thema Online-Welt für jemanden heute nicht wichtig erscheint, wird es für dessen Kinder auf jeden Fall ein Thema werden. Also sollte man aufstehen, auch wenn man heute meint, nicht direkt davon betroffen zu sein.

Hoffnungsschimmer für den Schluss?

Der Hoffnungsschimmer ist, dass wir anfangen, über unsere digitale Zukunft nachzudenken und gemeinsam mit der Industrie eine sinnvolle Lösung zu finden. Wenn wir als Nutzer jetzt Flagge zeigen und sagen, wir wollen Mitspracherecht, dann ist es möglich, dass meine Zukunftsvision aus "This Way Lies Mayhem" nicht eintritt - und dass es irgendwann einen Kompromiss gibt, mit dem wir alle leben können. Ich glaube, dass es geht - aber wir müssen jetzt anfangen.

* Ewan McGee skizziert in seinem Debüt-Roman "This Way Lies Mayhem" (etwa "Da lang geht's in Chaos") eine recht düstere Welt, in der es schließlich zur Revolte kommt. Die 18-jährige Alex erzählt, wie sie aus dem Netz verbannt und von der Polizei gejagt wurde - und sich einer Untergrundbewegung anschloss, um für Privatsphäre und Nutzerrechte zu kämpfen. "This Way Lies Mayhem" ist als E-Book in englischer Sprache erhältlich (auf allen gängigen E-Book-Plattformen). Ewan McGee (der seinen Roman unter Pseudonym veröffentlichte) hat unter anderem für "Neon", "GQ", Spiegel Online und Zeit Online geschrieben. Mehr zu Buch und Autor erfahren Sie online hier.  


Autor: Susanne Herrmann

schreibt als freie Autorin für W&V. Die Lieblingsthemen von @DieRedakteurin reichen von abenteuerlustigen Gründern über Medien und Super Bowl bis Streaming. Marketinggeschichten und außergewöhnliche Werbekampagnen dürfen aber nicht zu kurz kommen.