Renate Künast:
Autorisierungswahn: Typologie der amputierten Interviews
Die Autorisierungs-Wut bei Interviews - das jüngste Beispiel lieferte Grünen-Fraktionsvorsitzende Renate Künast - hat in Deutschland neue journalistische Untergattungen hervorgebracht: Das amputierte Interview in seinen verschiedenen Ausprägungen - vom geschwärzten Interview bis zum Nicht-Interview.
"Wir haben auf die Veröffentlichung dieses Interviews verzichtet", schreiben die Redakteure von mittelhessen.de. Sie sind damit in guter Gesellschaft. Eine ganze Reihe von Redaktionen wehrte sich in der Vergangenheit bereits auf diese oder ähnliche Art gegen den Autorisierungswahn bei Interviews.
Die Nachrichtenredaktion der Zeitungsgruppe Lahn-Dill, zu der die Webseite mittelhessen.de gehört, sprach eineinhalb Stunden mit der Grünen-Fraktionsvorsitzenden Renate Künast. Hinterher, "bei der üblichen Autorisierung", hätten die Grünen aber derart massiv in den Text eingegriffen, dass das geführte Interview in völlig anderem Licht erschienen sei. Daher lautet die Headline nun: "Kein Interview mit Künast". Und die Bildredaktion hatte offenbar Spaß daran, ein möglichst unvorteilhaftes Foto der Politikerin zu suchen. Mit dieser Aktion schaffte es Künast auch auf den BildBlog und sammelt womöglich mehr Negativ-Punkte, als mit ihren ursprünglichen Aussagen.
Schauspieler, Musiker, Sportler, Unternehmer, Politiker basteln an ihrem Bild in der Öffentlichkeit. Auch in den Interviews, die sie geben. In Deutschland hat sich daher über Jahrzehnte die Sitte verfestigt, Interviews autorisieren zu lassen. Für die meisten Redaktionen – auch für W&V – ist sie Alltag, wenn man überhaupt Gespräche führen möchte. Die "FAZ" berichtete sogar schon von Verträgen, die sicherstellen sollen, dass keine unautorisierten Texte öffentlich werden, inklusive Vertragsstrafen bei Zuwiderhandlung.
Doch immer wieder zeigen sich Redaktionen kreativ darin, sich gegen besonders dreiste redaktionelle Bevormundung zu wehren. Als die "taz" 2003 den damaligen SPD-Geschäftsführer Olaf Scholz auflaufen lässt, löst sie eine breite Diskussion um die Autorisierungs-Praxis aus. Die von Scholz freigegebene Fassung enthält so viele Änderungswünsche, dass die "taz" das Interview kurzerhand mit geschwärzten Antworten druckt. Als Aufmacher. Daraufhin gab es sogar eine Novellierung des Pressekodexes. "Ein Wortlautinterview ist auf jeden Fall journalistisch korrekt, wenn es das Gesagte richtig wiedergibt", heißt es dort. Doch in der Praxis hat das wenig geändert. In den USA ist das vorherige Freigeben von Interviews übrigens verpönt. Dafür haben sich in Deutschland ganz neue Interview-Formen herauskristallisiert:
Besonders aufmerksamkeitsstark: Das geschwärzte Interview
Wie die "taz" griff auch "U_Mag" zum schwarzen Stift. 2007 machte das Lifestyle-Magazin bei einem Gespräch mit der Schauspielerin Hannah Herzsprung auf diese Weise deutlich, wie weit die Verstümmelung des Interviews in der autorisierten Form ging.
Perfide: Das Frage-Interview
Entlarvend kann es sein, nur die Fragen zu veröffentlichen, wenn die Antworten zu stark geändert werden. "Die Zeit" spricht 2010 mit Oliver Bierhoff, dem Manager der Fußball-Nationalmannschaft, anlässlich der WM in Südafrika. Der DFB-Pressesprecher zieht das Interview allerdings komplett zurück. Die Begründung: Es hätte zu viel – "inhaltlich und sprachlich" – geändert werden müssen. Die "Zeit" veröffentlichte die Fragen trotzdem.
Mit dem Frage-Interview rächt sich "Die Zeit" auch an der kurzfristigen Absage von Frank Castorf, dem Regisseur, dessen "Ring des Nibelungen" Bayreuther Festspiele 2013 eröffent haben. Im "Zeit-Magazin" heißt es daher: "Stellen wir hier unsere Fragen und lassen Frank Castorf mit seiner "Ring"-Regie in Bayreuth antworten."
Das "Handelsblatt" nutzt diese Interview-Gattung 2011, um zu zeigen, wie es der Geldelite "die Sprache verschlagen hat". Der Nicht-Gesprächspartner ist Baudoin Prot, Chef der französischen Großbank BNP Paribas. Er überarbeitet das Interview zunächst mehrfach und zieht es schließlich ganz zurück. "Angesichts der aktuellen Lage im Bankensektor wollte man sich nicht mehr äußern", so die Wirtschaftszeitung.
Schuss ins Knie: Das Porträt des Interview-Zurückziehers
2006 zieht der damalige Nationaltorwart Oliver Kahn ein Interview mit der "Zeit" zurück und tut sich damit keinen Gefallen. Die Wochenzeitung veröffentlicht stattdessen den Artikel "Die Angst des Torwarts" und macht aus dem nicht gedruckten Interview den Erzählstrang für "die Geschichte einer persönlichen Tragödie."
Ein Schweigen sagt mehr als 1.000 Worte: Das Nicht-Interview
Siehe Renate Künast auf mittelhessen.de.