Dinge, wie diese Zugfahrt.

"Ich bin high und ich rolle tief", würde ich einstimmen, wenn nicht die Sitzverstellung klemmen und der nagelneue ICE der Baureihe 407 seit zehn Minuten laut- und bewegungslos im Niemandsland zwischen Düsseldorf und Köln herumstehen würde. Der Blick auf die Bayer-Lichterkette hat mich als demütigen Besitzer einer Bahncard 50 nur 41 Euro gekostet. Weiterfahren wäre priceless. Less than Jake singen "Hell looks a lot like L.A.".  Aus Gainesville verschlägt’s einen eher selten nach Leverkusen.

Als der Zug zögerlich ruckend wieder anfährt, öffnet sich leise zischend die Druckschleuse, die jedweden bordbistroesquen Frohsinn von der alltagsmüden Kontemplation des Ruheabteils fernhaften soll, um einen mittelmäßig erfolgreichen, mittelalten Banker mit strammem Scheitel und lockerer Krawatte auf den Testbildteppich zu spucken. Kaum akklimatisiert kommt er schnurstracks auf mich zu. Sein zackiger Stechschritt entblößt farbenfrohe Gallo Socken. Ich starte zügig, aber wohl überlegt alle gängigen Abwehrversuche von "Atemlos-durch-die-Nacht-pfeifen" bis "Zum-Kopfhörer-greifen-und-den-gesamten-Inhalt-der-Tasche-über-drei-Sitze-verteilen".

Wenig überraschend hilft mir das alles gar nichts. Das Investment-Hemd bleibt fragend aus der Wäsche guckend neben mir stehen und bewegt die Lippen. Ich verweise zaghaft auf die zahlreichen, freien Plätze im Wagen und kapituliere schließlich schulterzuckend vor seiner Zielstrebigkeit. "Setz dich", nicke ich wortlos. "This is bigger than us", lässt mich mein Kopfhörer wissen.

Gecko Junior macht auf dem mit gegenüber liegenden Sitz Sitz. Kurzzeitig verunsichert beuge ich mich zur Seite und spähe möglichst unauffällig unter den Tisch, um eine gleichermaßen verstörende wie beruhigende Entdeckung zu machen: Er hat Beine. Ich stoße einen philanthropisch motivierten Seufzer der Erleichterung aus, richte ich mich wieder auf und gebe Daddy Longlegs Zeichen, zum Fenster durchzurutschen. Beinfreiheit im Zug ist Teamwork. Gib wir was, womit ich arbeiten kann. Just in diesem Moment klingelt sein Blackberry Storm Sturm. NOSSA! Hallelujah…

Ich rutsche zum Fenster durch und schaue Krawatte genervt an. Er indes blickt nichts. Muss seinem Kollegen, der auch im Zug ist, den Weg zu Wagen 21 erklären.

"Neee, der vor dem Restaurantwagen, in den wir sonst immer hinten einsteigen. Ja, vorne. Ja, ich bin heute vorne eingestiegen. Wagen 21. Ja, das Restaurant ist Wagen 22 aber ich bin in 21, also davor oder eigentlich dahinter…"

"Königswinter", denke ich, schließe entnervt die Augen und versuche von besseren Zeiten zu träumen. An Tagen wie diesen wundere ich mich, dass wir nicht schon längst ausgestorben sind, und ja, manchmal schäme ich mich, ein Mann zu sein.

Sein ratio-abstinenter Kollege hat den Weg inzwischen gefunden. Das ist eine Scheiß-Invasion. Es passiert, was passieren muss, wenn zwei alltagsallergische Protagonisten in freier Wildbahn aufeinandertreffen und von der Kombination aus zu großem Platzangebot und mit dem Bodenblech verschraubten Sitzen überfordert sind. Sie setzen sich NEBENEINANDER, und ja, der andere hat auch Beine.

Ich packe meine Sachen zusammen und wechsle auf den nicht besetzten, völlig freien, menschenleeren Viererplatz auf der anderen Seite des Ganges.

Ich brummle etwas in meinen Bart, das ich auf Grund der formidablen Leistung der Noise-Cancelling Headphones nicht verstehen kann. Der Frühstart ins Wochenende ist versaut. So viel steht fest. Nach fünfminütigem Pinguinzählen klappe ich mein Macbook auf und wende mich wieder dem Gruppieren und Stapeln zu. Irgendwie kriegen wir bestimmt auch Hafti auf die Zielgruppe gebogen und die Busnummer ist doch eigentlich ganz dufte. Realitätsflucht aus der Realitätsflucht. Ich will auf den Arm…


Autor: W&V Gastautor:in

W&V ist die Plattform der Kommunikationsbranche. Zusätzlich zu unseren eigenen journalistischen Inhalten erscheinen ausgewählte Texte kluger Branchenköpfe. Eine:n davon habt ihr gerade gelesen.