Kurzsichtigkeit durch Kurzfristigkeit

Der ROI hat noch ein anderes Problem: Er lässt sich einigermaßen sicher nur für kurzfristig wirkende Marketing-Maßnahmen errechnen. Denn nur bei einer mehr oder minder direkten Wirkung lassen sich Input und Output in einen anschaulichen Zusammenhang bringen. Doch Marketing hat ebenso langfristige Wirkungen: Eine Marke muss erst einmal in den Köpfen der Verbraucher verankert werden, damit sie das Verhalten beeinflusst. Viele kurzfristige Käufe profitieren so von jahrelanger
Markenpflege. Bestimmte Marketing-Instrumente, z.B. Image-Werbung in klassischen Medien (TV, Print, Plakat, Radio), haben hier ihre Stärken, die sich aber in einer reinen ROI-Betrachtung kaum abbilden lassen. Im Gegensatz dazu werden kurzfristig wirkende Maßnahmen (etwa Suchmaschinen-Werbung oder Verkaufsförderungsmaßnahmen im Laden) auf Grund ihres ROI manchmal überschätzt.

Markenpflege braucht Zeit

Marketing ist dabei kein Entweder-Oder: Langfristig wirksame Markenpflege ist genauso wichtig wie kurzfristiges Abverkaufen. Die starke Orientierung an einem dominanten Indikator, dem Return on Invest, fördert allerdings das Kurzfristdenken. Andere Faktoren kommen hinzu – etwa der Wunsch, den Investoren jedes Quartal schöne Zahlen zu präsentieren, oder ein zu kurzes Verweilen von Marketings-Chefs auf einen Posten, die dann schnell Erfolge zeigen müssen. Die unbestreitbaren Stärken digitaler Marketing-Maßnahmen liegen meist auf der Kurzstrecke, weshalb die Digitalisierung das Unterschätzen von langfristigen Marketingzielen verstärkt. Realtime ist immer jetzt, doch Markenpflege muss in die Zukunft schauen.

Auf die Balance kommt es an

Die führenden Marketing-Wissenschaftler scheinen heute in Großbritannien und Australien zu arbeiten – sie werden nicht müde, auf die Wichtigkeit eines ausbalancierten Marketings hinzuweisen. Dabei haben sie eine einfache Faustregel gefunden: im Durchschnitt sollten 40 Prozent des Budgets für kurzfristige, verkaufsfördernde und oft digitale Maßnahmen investiert werden. 60 Prozent sollte für Markenpflege, Bekanntheit und Image-Werbung in klassischen Werbeträgern und Online-Medien aufgewendet werden. Die hier relevanten KPIs sind ebenso klassisch: Markenbekanntheit, Präferenzen, Image-Dimensionen. Hier einen langfristigen Return on Invest zu ermitteln, ist eine wichtige, allerdings schwierige Aufgabe für Marktforscher und Datenanalytiker.

Keine Frage: Der Return on Invest ist für viele Bereiche ein wichtiger Indikator – aber nur einer unter vielen. Andere KPIs sind ebenso bedeutsam, gerade wenn es darum geht, Marken langfristig erblühen zu lassen. Der ROI sollte nicht der König unter den KPIs sein – dafür ist er zu kurzatmig und widersprüchlich. Marketingerfolg ist ein Langstreckenlauf und verlangt dementsprechend einen langen Atem.

Über den Autor: Dirk Engel ist unabhängiger Berater und Marktforscher. Er unterstützt Unternehmen und Werbevermarkter in der Erforschung von Werbewirkungen. Gleichzeitig ist er als Hochschul-Dozent, Keynote-Speaker und Fachautor zu Marketing- und Medienthemen unterwegs.


Autor: W&V Gastautor:in

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