
Kreativfestival:
Cannes Lions 2018: Die Kehrtwende des Festivals ist fragwürdig
Beim größten Werbefestival der Welt an der Croisette soll dieses Jahr alles anders werden: besseres Juryverfahren, gestraffte Kategorien, kürzeres Programm. Nur glaubt keiner wirklich an eine Kehrtwende.

Foto: W&V
Für Menschen, die Gedränge nicht leiden können, dürften die diesjährigen Cannes Lions nicht der passende Aufenthaltsort sein. Im Vorjahr quetschten sich 10 000 Besucher durch die Hallen des Palais des Festivals, entlang der Croisette und auf den unzähligen Partys – das ist nur die Zahl der offiziell registrierten Delegierten, inoffiziell wird die Zahl der Besucher auf mehr als 30 000 geschätzt. Dieses Jahr könnte sich die Lage noch mehr anspannen. Denn das größte Werbefestival der Welt hat seine Veranstaltung komprimiert, das Programm findet nun an fünf Tagen statt – früher dauerte es länger als eine Woche.
Die Veranstalter der Cannes Lions, die britische Ascential-Gruppe, stand schon einige Jahre in der Kritik, beugte sich letztlich dem Druck vor allem der großen Werbenetworks – allen voran Publicis und WPP – und kündigte für dieses Jahr die größte Veränderung in der Geschichte des Festivals an. Abgesehen von der verkürzten Dauer heißt das unter anderem: das Streichen von drei Hauptkategorien (Cyber, Integrated sowie Promo & Activation Lions) und 120 Unterkategorien, die separate Bewertung von Social-Kampagnen und das Aufteilen der gesamten Festivalaktivitäten unter neun thematischen Säulen (Reach, Comms, Craft, Experience, Innovation, Impact, Good, Entertainment, Health). An sich keine schlechte Sache, allerdings trauen die meisten deutschen Cannes-Kenner Ascential die Wende nicht zu.
Kreativität soll im Vordergrund stehen
„Die Gier spricht nach wie vor eine deutliche und laute Sprache in Cannes“, sagt Götz Ulmer, amtierender Kreativvorstand von Jung von Matt, dem größten deutschen Cannes-Favoriten 2018. Cannes gelte unter den Kreativen der Werbung noch immer als Olympia, allerdings, so Ulmer, „hat Olympia Macken bekommen“. Er kritisiert die Juryzusammensetzung, bei der immer noch die großen Werbeholdings das Sagen haben und sich inhabergeführte Agenturen schwerer denn je damit tun, einen Juryplatz zu bekommen. Ein weiterer Kritikpunkt: Die Vergabe der Festivalpässe an Juroren. Gratistickets für Nachwuchskreative bekommt nämlich nur, wer entsprechend viel Geld für die Einreichungen in die Hand genommen hat. Cannes verkauft das als gelungene Nachwuchsförderung und scheint auch kein Problem damit zu haben, dass der Studentenpass für unter 23-Jährige 815 Euro und für Junioren unter 30 Jahren 1795 Euro kostet. „Zum Lernen gibt es wirklich andere Festivals“, findet wie Ulmer Guido Heffels, Kreativchef der Agenturgruppe Heimat, die im vergangenen Jahr zum ersten Mal den ersten Platz des jährlichen W&V-Kreativrankings belegt hat. Weder Ulmer noch Heffels reisen 2018 nach Cannes.
Viele Änderungen sind bei genauem Hinsehen halbgar
Die Cannes Lions haben trotz Rückgangs der Delegates-Zahlen im vergangenen Jahr sieben Prozent Umsatzplus erwirtschaftet, lassen sich jeden Mehrwert bezahlen, den sie anbieten, so lautet einer der häufigsten Vorwürfe, nicht nur von deutschen Werbern. Cannes hat zwar gehandelt, nimmt es mit manchen Sachen aber offenbar nicht ganz genau. Viele der Änderungen von Cannes sind bei genauerem Hinsehen auch eher halbgar. Die günstigeren Hotelpreise etwa, die die Ascential-Gruppe ankündigte, sind an Mindestaufenthalte gebunden. Auch was das angeblich limitierte Beschicken einzelner Kategorien betrifft, lassen sich für gewiefte Einsender noch Hintertürchen finden.
Viele deutsche Werber fanden es im Vorjahr besser, dem offiziellen Cannes-Rahmenprogramm fernzubleiben. Sie beschränkten ihren Aufenthalt auf Orte außerhalb des Palais, verfolgten die Preisverleihungen, wenn überhaupt, in den sozialen Medien und nicht auf dem roten Teppich.
Fast 10 0000 weniger Einreichungen
Die Änderungen machen sich 2018 auch bei den Einreichzahlen bemerkbar. Im Vorjahr konkurrierten 41 170 Arbeiten, dieses Jahr sind es 32 372 aus 90 Ländern – das entspricht einem Minus von rund 13 Prozent. Ascential-CEO Philip Thomas hat damit gerechnet. „Wir haben im vergangenen Jahr die Entscheidung gefällt, den Reset-Knopf für die Cannes Lions zu drücken. Wir haben auf drei große Löwen verzichtet und viele Subkategorien entfernt. Wir wussten, dass das ein geringeres Einreichvolumen bedeuten würde, aber auf lange Sicht war das die richtige Entscheidung.“
Trotz Boykotts sind über 100 Arbeiten von Publicis im Rennen
Thomas verweist auch auf das Fehlen der Publicis-Einreichungen, die sich in den Zahlen niederschlagen. Das Verhältnis von Publicis und Cannes ist eine interessante Sache: Im vergangenen Jahr kündigte Publicis-CEO Arthur Sadoun das Fernbleiben seiner gesamten Gruppe bei den Cannes Lions an; Cannes änderte sich und baute um. Neuerdings sind Publicis und Cannes wieder beste Freunde, arbeiten sogar eng zusammen, unter anderem um „Marcel“, die auf künstlicher Intelligenz basierende Plattform von Publicis, mit einem großen Kampagnenarchiv zu bestücken.
Sadoun lobte öffentlichkeitswirksam die Cannes-Organisatoren und ließ kurz vor dem Festivalstart 2018 eine Pressemitteilung verschicken, weshalb trotz Cannes-Boykotts mehr als 100 Arbeiten von Publicis im Rennen sind und Mitarbeiter dabei an der Croisette.
Ganz im Sinne von Cannes-Festivalchef Jose Papa übrigens, der nämlich feiert jetzt eine gestiegene Einreichzahl von Kundenseite. Statt Publicis selbst, haben die Auftraggeber angeblich proaktiv eingereicht. Die Anzahl der Kundeneinreichungen sei dieses Jahr um mehr als 84 Prozent gestiegen.
Nur mit Glanz und Glamour lässt sich die Zukunft des Festivals nicht sichern
Eins immerhin scheint den Veranstaltern bewusst geworden zu sein: Nur mit Glanz und Glamour lässt sich die Zukunft der Cannes Lions nicht sichern. An manchen Stellen zeigt sich das Festival sogar ungewohnt bescheiden. Zu spüren bekommen das dieses Jahr unter anderem die Jurys, die in den Tagen vor der offiziellen Festivalwoche an der Croisette jurieren. Statt im mondänen Carlton-Hotel wohnen viele Juroren im Mercure, Baustellenblick inklusive. Zum Mittagessen wird Wasser statt Wein serviert. Die Stimmung unter den Juroren sei deshalb allerdings nicht schlechter, sagte Stephan Vogel, Ogilvy-Kreativchef und diesjähriges Mitglied der Outdoor-Jury: „Keine Beschwerden.“ Statt elf Tage lang juriert seine Jury fünf. Statt 25 Juroren tagen zehn Kreative.
So wenig Cannes an manchen Stellen verstanden hat, so viel hat es an anderen dazugelernt. Ob das dazu beiträgt, die Attraktivität eines offiziellen Festivalbesuchs bei Kreativen und Kunden zu erhöhen, wird sich zeigen.
Mehr zum diesjährigen Cannes-Festival und den Favoriten lesen Sie in der W&V-Ausgabe vom 18. Juni (Nr. 25/2018). Zur Einzelheftbestellung.
In unserem W&V-Liveblog berichten Conrad Breyer und Daniela Strasser direkt vom Cannes-Festival.