
Cannes Lions:
Die Nachbeben von Cannes
Sie hat fast schon genauso einen festen Platz im Terminkalender wie das Werbefestival selbst: die Phase nach Cannes, in der Goldideen, Plagiate und Skurriles aufgearbeitet werden. Dieses Jahr kriegen zum Beispiel Grey und Jung von Matt ihr Fett weg.

Foto: Screenshot/Nivea
Sie hat fast schon genauso einen festen Platz im Terminkalender wie das Werbefestival selbst: die Phase nach Cannes, in der Goldideen, Plagiate und Skurriles aufgearbeitet werden. Dieses Jahr kriegen zum Beispiel Grey und Jung von Matt ihr Fett weg.
Da berichtet das US-Blatt "Adweek", wie John Hegarty, Chef der Titanium- und Integrated-Jury, über eine Einreichung aus Deutschland spottete. Der Sir John Hegarty, der die 90er-Jahre mit seiner Londoner Agentur Bartle Bogle Hegarty kreativ dominierte. Und sich ernsthaft fragte, wie eine Arbeit von Jung von Matt/Elbe für Nivea hatte in Cannes eingereicht werden können.
Der Case-Film zu einer Strandaktion zeigte eine mechanische Möwe, die Kinder bescheißt. Also nicht: betrügt, sondern von oben Sonnenmilch auf die Kleinsten abschießt, die Mama entwischt sind, bevor sie fertig eingecremt waren. Als ECD zeichnet JvM/Elbe-Chefin Dörte Spengler-Ahrens für die Arbeit "Care From the Air" verantwortlich.
Das Video zur Ambient-Aktion wirkt wie eine Werbeparodie - und ist keine. Das könnte man nun für eine von vielen unerheblichen Einzelmeinungen halten - aber Hegarty ist halt doch nicht irgendwer. Sehr ironisch bemerkte er in Cannes: "Das ist zweifellos wegweisend in Sachen Technik und Markenintegration", zitiert Adweek die Werberlegende. Wieder ernst, fuhr er fort, das sei das Dümmste, was er in seinem Leben je gesehen habe. Hegarty argwöhnte gar einen Scherz à la versteckte Kamera: Vielleicht habe das Team von Monty Python sehen wollen, ob die Jury dafür stimmen würde.
Was schade ist - denn Beiersdorf hat für seine Marke Nivea schon oft Mut und Humor bewiesen. Seit Juni etwa klären Sonnenpuppen Kinder spielerisch über Sonnenschutz auf, vor einem Jahr gab es Puppen mit Sonnenbrand in Brasilien. In Südafrika wurde vor einigen Wochen eine Rutsche erprobt, die Kinder mit Sonnencreme besprüht (Agentur FCB, Kapstadt), 2014 brillierte die Marke mit einer Printanzeige samt App (FCB Brasilien) zur leichteren Überwachung der Kinder am Strand.
Die Kreativideen für Nivea führten aber auch schon mal zu "Brachial-Humor", etwa mit dem Fahndungsvideo für Niveas Deo "Stress Protect" (Agentur Felix & Lamberti).
Wie dem auch sei: Die Robotermöwe schießt den Vogel ab, um im Bild zu bleiben. Und findet nun ihren Cannes-Nachhall. (Weder Beiersdorf noch die Agentur nahmen dazu auf Anfrage von W&V Stellung.)
Ebensolchen Nachhall, aber aus anderen Gründen, erntet eine Arbeit, die wahrhaftig mit einem Bronzelöwen bedacht worden war: Grey Singapur hatte eine App eingereicht, die dabei helfen sollte, dass weniger Flüchtende ertrinken. Statt Satellitenfotos der tatsächlichen Situation auf See lieferte die App stets dasselbe Bild, dazu den lybischen Wetterbericht, hatten ein paar Techniker bereits in der Cannes-Woche bemängelt; Apple nahm die App daraufhin aus dem App Store.
Die Agentur Grey bloggte, man befinde sich noch im Testmodus (der Eintrag wurde entfernt). Ein Promotionvideo dazu gibt es auch. Etwas in Cannes einzureichen, was gar nicht funktioniert, kritisieren allerdings nun viele als reinen PR-Gag. Auf der Seite von Grey Singapur mit aktuellen oder preisgekrönten Arbeiten ist die Kampagne nicht mehr zu finden.
Den Löwen hat Grey offenbar nicht zurückgegeben. Die Löwen-Bändiger untersuchen die Sache. Was unter anderem den Ali Bullock (Infinity, Hongkong) derart aufregt, dass er nun einen offenen Brief an Grey via Linkedin verfasst hat. Titel: "Warum ich nie im Leben Grey als Agentur anheuern werde." Das gelte, bis Grey den Löwen zurückgibt. Er habe, schreibt Bullock, seinen Kommentar ein paar Tage zurückgehalten - "in der Hoffnung, dass Grey Singapur das Richtige tut und den Löwen zurückgibt. Doch nun hat sich mein ursprünglicher Ekel in Wut verwandelt."
Denn Bilder von toten Kindern am Strand, die ihre Flucht übers Meer mit dem Leben bezahlten, seien nicht witzig - und das Thema zu einem Witz in Cannes zu machen, ebenfalls nicht. Auf deren Rücken aber Grey mit vermeintlich guter Tat eine Test-App prämieren lassen, ohne die Testphase zu erwähnen. Bullock ruft Grey-Kunden auf, Druck zu machen.
Immerhin: Eine weitere Schaumschläger-Auszeichnung, die BBDO Brazil für Asprin-Motive für den Kunden Bayer bekommen hatte, gab die Network-Agentur zurück. Ein Bronzelöwe war an eine reine Goldidee von Almap BBDO gegangen; Kreativchef David Lubars ordnete die Rückgabe des Löwen an und ließ die Einreichung zurückziehen. Agentur des Jahres wurden die Brasilianer aber trotzdem.