Auf die Frage was China fehlt, um in seiner Innovationskraft so anerkannt zu sein wie die USA, sagte er: "Uns fehlen ein Steve Jobs und ein Bill Gates." Heute haben sie zwei Gallionsfiguren der Digitalisierung: Pony Ma Huateng, Chef der WeChat-Firma Tencent, und Jack Ma von Alibaba. Beide Unternehmen gehören heute zu den Top 10 der wertvollsten IT-Konzerne der Welt. Und es gibt eine blühende Start-up-Szene.

Nicht nur, dass es jetzt Digital-Stars gibt: China hat bei der Digitalisierung auch die USA hinter sich gelassen, Europa sowieso. Am deutlichsten wird dies beim Shopping. Der E-Commerce-Markt wächst doppelt so schnell wie in den USA. Jeden Monat kaufen 500 Millionen Chinesen über ihr mobiles Endgerät ein, das sind mehr Personen als die USA, Deutschland und Großbritannien Einwohner haben. Doch die Hardware allein sorgt noch nicht für den Anstieg des Online-Handels.

Es sind vor allem Alibaba und Tencent mit ihren Plattformen, die 90 Prozent des China-Digitalkonsums beherrschen – und mit ihren unkomplizierten Services dafür sorgen, dass chinesische Konsumenten im Schnitt fünf Mal am Tag diesen Prozess aktivieren: Click! Buy! Online bestellt werden Schuhe, Autos, Möbel, Tipps von Influencern und Freunden, Blumen und auch der tägliche Lebensmittelbedarf. Für umgerechnet einen Dollar kann man sich die Ware nach Hause bringen lassen.

Diese Digitalisierung hat für Millionen Chinesen das Leben verbessert. Auch außerhalb der Megacitys können sie an der wirtschaftlichen Entwicklung teilhaben. Bauern und Kleinproduzenten verkaufen direkt online, jeder der 900 Millionen WeChat-Benutzer kann schnell und einfach seinen Pass beantragen, eine Reise buchen und von der Taxifahrt zum Flughafen bis zum Hotel per App bezahlen – und: sie haben Zugang zu viel mehr Informationen, die bislang noch weniger zensiert werden können als die Print- oder TV-Medien.  

Kassenloser Supermarkt? In China ein alter Hut

Wer sich für die Zukunft des digitalen Marketings und E-Commerce interessiert, muss nach China schauen. Wenn Amazon in Seattle jetzt den ersten kassenlosen Supermarkt eröffnet, dann wirkt das für Chinesen wie Nachrichten aus der alten Welt. Self-Scanning-Experimente gab es auch in NRW bereits 2007. Doch Alibaba war schneller in der Umsetzung und ist mit den Hema-Supermärkten schon viele Schritte voraus.

Klingt toll. Aber!Richtig: Facebook, Google & Co. sind in China gesperrt, eine VPN-Verbindung in Richtung Ausland seit Jahren nur über Umwegen herzustellen. China hat im Gegensatz zur westlichen Welt nicht nur ein eigenes digitales Ökosystem aufgebaut, sondern auch seine Daten nicht auf Servern in den USA, sondern im eigenen Land. Die Regierung tut alles, um die Datenhoheit zu behalten. Wenn Europa auch diesen eigenen Weg eingeschlagen hätte, wäre ich nicht unglücklich. Dass die NSA das Handy des chinesischen Premiers ausspioniert – unwahrscheinlich. Doch wie weit reicht das Kontrollauge der chinesischen Datenzentralen?

Der Widerspruch zwischen Sicherheit und Innovation

Ausländische Unternehmen sehen sich mit der Forderung der Regierung konfrontiert, dass auch sie die Daten ihrer chinesischen Niederlassungen auf chinesischen Servern hosten sollen. Deshalb steht beispielsweise das Thema Cyber-Kriminalität ganz oben auf der Agenda der deutschen Maschinenbauer. Gleichzeitig gibt es die Befürchtung, dass WeChat und Alipay, die sich auch im Ausland breitmachen (Disclaimer: und mit denen unsere Agentur auch aktive Partnerschaften hat), nun auch ihre Benutzer in Deutschland und Europa ausspionieren könnten. Da schwingt viel China-Phobie mit.

Aber laut Payment Services ist es aktuell nicht – wie hier und da befürchtet - möglich, über die Alipay-Bezahlfunktion auch das Kaufverhalten zu kontrollieren. Was die chinesischen Touristen aber auch nicht sehr stören würde – für sie zählt, dass sie hier bargeldlos shoppen können.

Alles super also? Seit jeher kämpft die chinesische Regierung mit dem Widerspruch zwischen Sicherheit und Innovation, zwischen Kontrolle und Öffnung. Mit den immer selbstbewusster werdenden Bürgern wird das sicherlich in Zukunft nicht einfacher. Dabei hat das Interesse der Mehrheit weniger mit den Träumen westlicher Medien von Demokratie und Menschenrechten im Reich der Mitte zu tun. Das Murren wendet sich hauptsächlich gegen korrupte Funktionäre und Bosse.

Korruption ist in China ein alltägliches Phänomen, dem das Land den Kampf angesagt hat. In China sind in den vergangenen fünf Jahren mehr als 1,3 Millionen Amtsträger wegen Korruption bestraft worden. Etwa die Hälfte von ihnen seien Beamte in Dörfern, berichtete die Staatsagentur Xhinhua.

Digitalisierung als Mittel gegen Korruption

Im großen wie im kleinen Stil ist Korruption heute ein Teil der "Kultur". Auch unsere Schwesteragentur mit chinesischen Büros und Beijing und Shanghai kennt das: Vor einem Pitch gibt es schon mal Anweisungen wie hoch wir anbieten sollen, damit der Wunschpartner gewinnt. Aufträge als Gegenleistung für Einladungen, Geschenke, Lobeshymnen beim Chef werden in Aussicht gestellt. Rote Umschläge erhalten Journalisten, damit sie wohlwollend berichten. Praktiken, die nicht nur in chinesischen, sondern auch in "ausländischen" Unternehmen geduldet sind.

Jeder Bürger in China ist damit konfrontiert, wenn er es mit Personen auf dem Amt, im Handel oder bei Institutionen zu tun hat. Die Online-Services sind bislang das beste Gegenmittel gegen diese Praktiken. In WeChat werden alle Benutzer gleich behandelt; man braucht für die Services keine "Guanxi" (bei uns würde man sagen: "Connections").

Die chinesische Regierung wird den Vorsprung bei Innovationen nicht riskieren, sondern ausbauen wollen. Das wird nur funktionieren, wenn sich ein soziales Punktesystem nicht gegen die wachsende Freizügigkeit der Bürger richtet. Wenn das Punktesystem, mehr Gerechtigkeit, weniger Korruption und mehr persönliche Sicherheit verspricht, wird man manches dafür in Kauf nehmen. Unsere Radarkontrollen messen auch alle, aber blitzen nur die Übertreter. Und das Flensburger Punktesystem sorgt ja auch für etwas mehr Sicherheit im Verkehr.

Die Diskussion dürfte von der in Deutschland, ob der Staatstrojaner wirklich nur Kriminelle ins Visier nimmt, gar nicht so weit entfernt sein. Und dass die digitale Welt neue Regeln etwa gegen Fake- und Hass-News benötigt, beschäftigt auch viele.

Über die Autorin:

Heidrun Haug ist Gründerin und Geschäftsführende Gesellschafterin der Kommunikationsagentur Storymaker mit Sitz in Tübingen, München, Berlin, Beijing und Shanghai. 


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Autor: W&V Redaktion

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